Eine Kindheitserinnerung

In der frühen Nachkriegszeit, bis in die 60er Jahre hinein, war das Mittelalter auf dem Lande noch nicht völlig zerstört. Ich wuchs noch in die Sitten und Gebräuche einer alten Welt hinein, kaum ahnend, daß vor wenigen Jahren erst eine große Katastrophe zu Ende gegangen war, die das in Jahrhunderten geprägte Leben binnen kürzester Zeit grundlegend verändert hat. Das zeigte sich auf dem Land am augenfälligsten in der Revolutionierung der Landwirtschaft, selbst in grenznahen Gebieten wie der Oberpfalz, wo der Fortschritt zögerlicher vordrang als anderswo, trotz Flurbereinigung und Grenzlandförderung.

Bei späteren Aufenthalten in der Oberpfalz habe ich versucht, den prägenden Eindrücken von früher nachzuspüren, oder dem, was von ihnen übrig geblieben war. Der Ort Waldau hatte für mich schon immer eine mächtige Anziehungskraft. Es war die Faszination des Altertümlichen, wie auch der dunkle schlichte Klang des Worts. Als ich im November 1990 wieder dort war, glaubte ich die düstere Vision eines altdeutschen Märchens zu sehen, worin die Vorstellungen von Wald und Mittelalter noch Synonyme sind.

Ich kann mich nicht erinnern, jemals zuvor im Winter in Waldau gewesen zu sein, was wohl daran liegen mag, daß in Erinnerungen an die frühe Kindheit immer Sommer ist. Ob mich jemand im Dorf beim Fotografieren beobachtet hat? So ein Jemand würde sich unweigerlich gefragt haben: Was will der Kerl hier? Unsere Häuser, unsere Gassen sind doch keine Sehenswürdigkeit. Ob der vielleicht ein Abgesandter ist, im Auftrag der Regierung, ein Spion? Es müßte einer hinaus gehen zu ihm, ihn zur Rede stellen, was er hier eigentlich will.

Ich war umgeben von einem Häuserschweigen, das seine Bewohner verbarg. Der Eindringling, der Voyeur, als der ich mir vorkam, erkannte vieles von dem wieder, was ihm von Kindesbeinen an vertraut war. Fasziniert von der noch erhaltenen Bausubstanz, in den wechselnden Masken der Renovierungen, sah ich hinter asbesthaltigen Häuserverkleidungen oder dezent-farbig gefaßtem Neuverputz doch die frühen Volumina umbauten Raums, wie sie aufgrund gesetzlicher Bauverordnungen gar nicht mehr zulässig sind.

Und immer wieder sah ich hinauf zur Burg, dem alles überragenden Turm mit dem daran angebauten Langhaus, diesem mächtigen, einfachen Gebilde, welches mir vorkam wie das Urbild aller Burgen und zugleich wie ein ins Monumentale vergrößertes Kinderspielzeug. Als Kind – ich war schon etwas größer – bin ich in die Burg eingedrungen, um das Geheimnis von innen zu sehen. Wie alle verlassenen – und noch nicht wieder restaurierten – alten Gemäuer war auch die Burg von Waldau, wo seit hundert Jahren vielleicht ein Dornröschen schlief, mit einem Gürtel dichten Gestrüpps und meterhohen Brennesseln umgeben.

Als ich mich ins Innere der Burg vorgearbeitet hatte, stand ich in einem großen leeren Gehäuse aus Stein mit zerbrochenem Gebälk. Der Boden bestand aus Erdreich, bedeckt mit Unrat und verstaubtem Laub. Am Grund des Turms lag in einer Ecke eine Schleiereule. Ich nahm den toten Körper in die Hand, er war leicht. Aus dem schönen Federkleid war das Lebendgewicht der Eule entschwunden…

Das schwindende Novemberlicht ließ mittlerweile keine weiteren Fotos mehr zu. Ich begab mich zum Wirtshaus, dem einzigen im Dorf, um bei einem Bier der ortsansässigen Brauerei nachzudenken über das, was ich heute gesehen hatte. Aber das Wirtshaus war zu, denn es war ein gewöhnlicher Wochentag, abends gegen halb fünf. Gerne wäre ich in der Gaststube eine Weile beim Fenster gesessen und hätte hinausgeschaut durch das Ganzfensterglas mit dem halbdurchsichtigen Vorhang und den längst aus der Mode gekommenen Topfpflanzen auf dem breiten Marmorfensterbrett. Ich hätte zugesehen, wie draußen das Restlicht schwindet und im Licht der Bogenlampe ein Stück der Straße stärker hervorgetreten wäre, neben der Hälfte eines geparkten Autos.

 

 

In den wenigen Minuten der Unschlüssigkeit ist mir wieder in den Sinn gekommen, wie wir einst wanderten, meine Großmutter und ich, von Pleystein nach Waldau. Es war Sommer und die Hitze groß. Am Ortsausgang, an der Straße nach Vohenstrauß, hat die Oma stets eine Viertelstunde Einkehr gehalten bei der kleinen Kapelle an der Weggabelung, um zu beten. Ich sah ihr bei der Andacht zu und kam in eine Stimmung von Ergriffenheit und Langeweile. Ich betrachtete die von der Feuchtigkeit gewellten Öldrucke, die Maria und Josef zeigten, das Jesuskind und den Heiland. Dann traten wir aus dem engen Heiligtum wieder hinaus in die Welt, um unsere Fußreise fortzusetzen. Die Landstraße entlang der summenden Telegraphenmasten wollte kein Ende nehmen. Wenn wir durch ein Waldstück gingen, wurde die Luft erträglicher. Dennoch liebte ich die Mittagshitze und den eintönigen, immer gleichen Gesang der Goldammer, die hoch oben auf einem Telegraphenmast saß. Wenn man näher kam, erstarb ihr Lied und sie flog weiter bis zum nächsten oder übernächsten Telegraphenmasten. So begleitete sie uns, immer wieder voraus fliegend, ein gutes Stück auf unserer Wanderung. Manchmal hörte man in der Ferne das dumpfe Geknatter eines Motorrads, das alsbald näher kam und mit großem Getöse vorüberraste, eine lange Staubfahne hinter sich lassend. Sekundenlang wallten dann heftig die hohen Gräser am Straßenrand.

Wir sind dann endlich in Waldau beim Haus meiner Tante angekommen. Es war unsagbar schön, in der kleinen Wohnküche auszuruhen und den Durst zu löschen mit einem großen Glas Kondrauer Sprudelwasser. Während meine kleine Oma und meine große Tante miteinander redeten, zog es mich bald schon wieder hinaus in den Garten hinter dem Haus, wo ich nach den roten und schwarzen Johannisbeeren sah und ob man sie schon essen konnte.

Hinter dem Haus, in mittlerer Entfernung, stand eine lange Reihe hoher Bäume, unter denen ein Pfad oder Wiesensteig verlief, auf dem man zum Bahnhof von Waldau ging, oder von dort her ins Dorf kam. Die Bahnstrecke befand sich in einem gewissen Abstand parallel und hinter dieser Baumreihe. Es waren Eschen. Seit jener Zeit sind Eschen zu meinen Lieblingsbäumen geworden, vielleicht nur deshalb, weil ich zum ersten Mal sah, wie der aufkommende Wind eines herannahenden Gewitters die Bäume einen nach dem anderen erfaßte, bis ein mächtiges Rauschen anhob, während der Himmel im Westen drohend schwarz war, und lichtlos die Wiesen und Felder. Meine Tante ermahnte mich, nicht zu nahe am Fenster zu stehen. Sie entzündete eine Kerze auf dem Küchentisch. Das elektrische Licht wurde erst wieder aufgedreht, wenn aus der Ferne kein Donnergrollen mehr zu hören war.

Der Bahnhof von Waldau war ein Wartehäuschen ohne Tür, ein ausrangierter rot-brauner Güterwaggon ohne Räder. Wie oft stand ich dort auf dem Sandweg neben den Schienen, neben meiner wortkargen Tante Anni, um auf den Zug zu warten, der mich zurück bringen sollte nach Pleystein? Als die kleine Dampflok mit den 2 oder 3 Waggons endlich angekommen war, stieg ich auf die offene Plattform mit den eisernen Sicherheitsgittern hinauf, wo ich mich die ganze Fahrt über aufhielt, trotz der dichten Dampfrußschwaden. Ich sah, wie die Tante immer kleiner wurde, und als der Zug eine lange Kurve durchfuhr, ging sie auf dem Pfad hinter den hohen Eschen zurück zu ihrem Haus. Die Bahnstrecke zwischen Weiden und dem Grenzdorf Eslarn hat kaum länger als ein Menschenleben existiert. Sie hat in mir eine Sehnsuchtsmetaphysik wachgerufen, denn in meinen Gedanken fuhr die Eisenbahn über die Bahnhöfe von Pleystein, Lohma, Waidhaus und Eslarn hinaus, hinein ins Böhmische und immer weiter bis nach Rußland und Sibirien. Wer je als Kind eine Spielzeugeisenbahn besaß, der wird sich heutzutage im Fernsehen vielleicht die ›schönsten Bahnstrecken der Welt‹ anschauen, spät in der Nacht…

Die Eisenbahn, die Eschen, die Burg, eine Goldammer, Telgraphendrähte, – all das hat beigetragen zur Mythenbildung in einer Kinderseele. Die Märchenbesichtigung von Waldau war nun zu Ende, die materiellen Restfaktoren mit der Kamera gebannt. So ist „Ein deutsches Dorf im Winter“ entstanden, in vielen Jahrhunderten, an einem Novembertag des Jahres 1990.

Schließlich ging ich durch den östlichen Ortsausgang hinaus und über einen Feldweg nach Vohenstrauß, um von dort den Bus zu nehmen nach Pleystein. Auf dem Höhenrücken wandte ich mich noch einmal um und sah, wie in der Dunkelheit noch dunkler sich der Turm der Burg von seiner Umgebung abhob.

 

Kurt Benning, 2014

 

 

 

Vom Verfertigen der Bilder beim Gehen

Gottfried Knapp, 2006

Eine Bilderreise im Winter. Eine Annäherung an etwas, das sich verschließt. Kahle Bäume im Vordergrund – sie stehen quer, vergittern die Sicht. Die Landstraße dahinter – sie schießt quer durchs Bild. Der Dorfweg ein Stück weiter – ein dünner Querstrich vor den drückenden Horizontalen der Häuser, die sich eigens lang zu machen scheinen unter ihren schneefleckigen Dächern, um den Einblick zu verwehren. Alles dehnt sich in die Breite, als sperre es sich gegen Eindringlinge. Kein Hinweis, wo es hineingehen könnte in das dörfliche Geschiebe oder wie der Verhau der querliegenden Schichten zu durchbrechen sei.

Nur ein Gebäude, das wie ein Bleistiftstummel über den geduckten Hausdächern emporragt, wagt sich in die Vertikale: ein wuchtiger Turm mit halbhohem Anbau. So sehen alte Wehrkirchen im Profil aus. Doch es ist nicht eine Kirche, die sich den Horizontalregeln dieser Dorfansicht widersetzt, es ist, wie wir beim Weiterblättern merken, eine architektonisch recht primitive mittelalterliche Zwingburg auf dem Hügel über dem Dorf, die alles überragt, eine rohe Steinanhäufung, aus deren paar winzigen klaffenden Fensterluken das Leben schon vor langer Zeit entwichen sein muss.
Ein ländliches Stück Deutschland wird mit fotografischen Mitteln (psycho-)analysiert. Kurt Benning, der im Zwischenbereich zwischen Wort- und Bildkunst mit präzis konzipierten bildnerischen oder verbalen Untersuchungsverfahren vorgefundene, von Menschen geschaffene Strukturen registriert und durch eine nachvollziehende Ordnung sinnlich ins Bewusstsein gehoben hat, erwandert ein Dorf in seiner oberpfälzischen Heimat. Er notiert mit der Kamera, was ihm als kennzeichnend und typisch für die Region erscheint und bringt es später in eine sprechende Ordnung, in eine erzählende Form.

Er hat für seinen Besuch einen Augenblick gewählt, in dem die gefühlte Atmosphäre über das Schwarz-Weiß-Medium fast handgreiflich wird. Der Anflug von Neuschnee hat sich nur an bestimmten Stellen halten können und sieht auch da, wo er liegengeblieben ist, höchst verderblich aus. Er reicht nicht aus, um die düster-schmutzigen Partien im Dorf ordentlich zu bedecken und aufzuhellen. Ja an manchen Stellen hat man den Eindruck, dass die Bewohner den weißen Stoff in aller Eile eigens für den eingedrungenen Fremdling hingestreut haben, dann aber in die Häuser geflüchtet sind, um von den sicheren Plätzen hinter den Vorhängen aus das eindringende Verhängnis zu beobachten. Das einzige Lebewesen, das sich vor der Kamera blicken lässt, ist eine Katze. Auch die wenigen humanen Gebrauchsgegenstände, die nicht weggesperrt sind – die paar unhandlich abgestellten Autos etwa – wirken so, als seien sie von ihren Nutzern vor langer Zeit vergessen worden.

Nichts lenkt also ab vom lautlosen, aber drastischen Mienenspiel der Häuser, die – ob ehrwürdig alt oder nur früh gealtert – ihre individuellen Bauschicksale in karikaturenhafter Überzeichnung ausstellen. Kurt Benning konzentriert sich als Beobachter ganz auf die kleinen ästhetischen Dramen, die sich auf den Fassaden und in den schiefwinkligen Zwischenräumen zwischen den sich bedrängenden Wohnhäusern, Scheunen und Schuppen abspielen. Was die Bewohner des Orts dem durchziehenden Wanderer an Emotionen vorenthalten, geben ihre Häuser im Grau des winterlichen Nebels und im matten Schein der schmelzenden Schneereste unfreiwillig deutlich preis. Schwarz und Weiß erzählen Geschichten.

 

 

Wie die Außenansichten des Dorfs verraten, steht in der Nähe der düsteren Burg auch eine Kirche. Jedenfalls überragt auf einigen Bildern ein hübscher Zwiebelturm die Häuser. Doch er wirkt mit seinen harmonischen Rundungen wie ein Fremdkörper in der kantigen, winkligen Welt und spielt darum, wie auch der fast unanständig frei in den Himmel ragende Kamin der ehemaligen Brauerei, der von einer untypischen, technisch bestimmten Arbeitswelt kündet, in der Bilderfolge nur eine beiläufige Nebenrolle. Was berichtenswert ist, findet sich zu ebener Erde, drängt sich beherrschend ins Bild: die sargschwarz verwitterten, fensterlosen Holzwände der hohen, beherrschenden Scheunen etwa, die den Wohnbauten die Aussicht nehmen; die Durchblicke zwischen den rätselhaft verwinkelt stehenden Häusern, die nur neue Hindernisse ins Bild bringen; die monströsen Holzzäune um handtuchschmale, unbenutzbare  Vorgärten, die von uralten Feindverhältnissen künden. Überhaupt Zäune: sie umschließen jeden Zipfel Land, auf dem etwas  sprießen könnte, lassen nur die engen Windungen der Sträßchen und Wege als gemeinschaftlich nutzbaren Raum übrig.

Die Wohnhäuser sehen in der Regel ärmlicher aus als die Wirtschaftsgebäude; auch fehlt ihnen offenbar die Kraft, die dazugehörenden Einzelbauten zu einem geschlossenen Hofensemble zusammenzubinden. Einige von ihnen sind schon nicht mehr bewohnt; ihre Fenster sind erblindet oder stehen offen, und doch wirken sie mit ihren fleckigen, bröckelnden Fassaden oft lebendiger als die frisch getünchten Häuser, bei denen sprossenlose Fensterscheiben schwarze Löcher in die leblos weißen Wände reißen. Da und dort schiebt sich auch mal ein Neu- oder ein Anbau mit banalen Lochmustern ins Bild, als müsse er beweisen, dass auch moderne Bautechniken in diesem Milieu nicht wirklich zu einer Alternative verhelfen.

Hebt sich der Blick aber über die Dächer hinauf in den Himmel, dann kommt unweigerlich der erhobene steinerne Zeigefinger des Burgturms ins Bild. Seine Drohgebärde ist allgegenwärtig, wirkt hinunter bis in die verstecktesten Winkel des Dorfs. Der Gegensatz von Unten und Oben, der zwischen Dorf und Burg jahrhundertelang bestimmend gewesen sein dürfte, wirkt, obwohl er seine gesellschaftliche Relevanz längst verloren hat, in den Schwarz-Weiß-Winterbildern von Benning emotional bildmächtig weiter. Die nicht sehr ausladende, extrem kompakte, schroff unzugängliche Burg wächst über den Zufälligkeiten der Dorfbebauung  zu einem Monument der Unversöhnlichkeit heran, das alle emotionalen Bewegungen in den unteren Zonen der Bilder beeinflusst.

Man muss nicht gleich Kafkas Roman »Das Schloss« zum Vergleich heranziehen, doch was Kurt Benning auf seiner Winterreise in der Oberpfalz mit der Kamera an physischen Details aufgespürt und bildnerisch herauspräpariert hat, tut auf psychischer Ebene nachhaltig Wirkung.

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