Rüdiger Joppien

Liebe Noa und Nina Benning, sehr geehrter Herr Bürgermeister und Vertreter der Stadt Pleystein, liebe Freunde, dear all, die Ihr Kurt nahestan­det, die Ihr ihn über Jahre kanntet, als Kollegen, Sammler, Filmemacher, Schriftsteller, Kunsthistoriker, Nachbarn und Bekannte.

Wir begleiten heute Kurt zu seiner letzten Ruhestätte, hier in Pleystein, wo er beerdigt werden wollte, an diesem Ort, der seit seiner Kindheit seine Heimat war.

Unter uns weilt Noa, Kurts überaus geliebte Tochter, zusammen mit ihrer Mutter. Ich freue mich, an diesem Tag, der ja ein trauriger ist, Noa kennen zu lernen. Noas Geburt im Jahr 2001 hat Kurts Leben verändert. In jenem Jahr gab er die Malerei auf. Ein Jahr später schuf er die Photoserie „Im Ödland“, die einzige Serie, die er in Farbe machte und bei der er, quasi aus der Perspektive von Noas Kinderwagen, die umliegende Landschaft von Gunderding photographierte: 365 Aufnahmen, für jeden Tag eine Aufnah­me. Danach beschloss Kurt, auch mit der Photographie aufzuhören. Nur das Zeichnen behielt er bei, und in zunehmendem Maße das Schreiben und Archivieren. Auf dem Hof in Gunderding sollte Noa eine glückliche Kindheit verbringen. Und wenn die Umstände es zuließen, ging Kurt mit seiner Familie, später auch mit Noa allein, auf Ferienreise. Noas Wohl lag ihm am Herzen wie nichts anderes auf der Welt. Ich erinnere, wie glücklich er war über eine Reise nach Südtirol, die er zusammen mit Hans Lang und dessen Kindern unternahm, mit denen Noa sich gut verstand. Und wie glücklich er war, als Du, Noa, ihm zu einem Geburtstag fünf Stücke auf der Geige vorspieltest.

Kurt wollte ein guter Vater sein und die Liebe vermitteln, die er als Kind selbst entbehrt hatte. Da sein Vater schon vor seiner Geburt als Soldat in Serbien gefallen war, empfand er sich als Mitglied einer „vaterlosen Gesellschaft“. Dies hat seine Existenz als Künstler nicht unwesentlich ge­prägt.

Die lebenslange Suche nach dem Vater, die sich in zahlreichen Aktionen und in der Edition der Briefe seiner Eltern widerspiegelt, darf man durch­aus auch metayphysisch verstehen. Immer wieder drang er mit seinen Photos und Texten ins Dunkel vor, suchte die Geheimnisse der Zeit vor seiner Existenz zu ergründen: in Londoner Abrisshäusern, in der Burg Treswitz oder in der Kapuzinergruft in Palermo. W. G. Sebalds Roman „Austerlitz“, der tief in die deutsche Geschichte und in die Verstrickungen früherer Generationen eindrang, war für ihn von existentieller Aussage­kraft. Dass Kurt jahrelang darauf beharrte, ausschließlich in Schwarz-Weiß zu photographieren, war Ausdruck seiner Ehrfurcht vor der Dokumen­tation, war er doch überzeugt, dass jeder Photographie noch die Aura eines abgebildeten Menschen oder des wiedergegebenen Gegenstands innewohnte.

Ich habe einmal über einen Kurt-Aufsatz ein Zitat von William Faulkner ge­setzt: „Die Vergangenheit ist nicht tot, sie ist noch nicht einmal ver­gangen.“ Auf Kurts Einstellung zum Leben treffen diese Worte zu. Die Vergangenheit aufzuspüren, war ihm ein tiefes Bedürfnis; er wollte mehr wissen von denen, die vor uns waren, und die uns gezeugt hatten.

In ihrem Vorleben sah er auch noch die Einheit von Mensch und Natur, die inzwischen stark gefährdet war. Kurt liebte Carl Gustav Carus‘ „Briefe über Landschaftsmalerei“ oder die Werke Adalbert Stifters. Landschaftsgemäl­de des 19. Jahrhunderts, ob von Garus, Corot, von Dillis, C. D. Friedrich, oder Carl Rottmann, waren ihm vertraut, er hat sie mehrfach erwähnt. Er träumte eigentlich davon, noch einmal in einer Landschaft des 19. Jahr­hunderts spazieren zu gehen. Mit dem Frevel unserer Generation, die Un­berührtheit der Natur aufs Spiel zu setzen, nur um des kurzfristigen materi­ellen Gewinns wegen, konnte er sich nicht abfinden. Kurts Freund Axel Kraus erzählte von Kurts Aufenthalt in Niederösterreich, wie er auf dem hinteren Peron einer Eisenbahn stand und mit seiner Kamera die ver­schwindende, immer kleiner werdende Landschaft gefilmt habe, ein Akt von symbolischer Bedeutung. Letztlich drehte sich Kurts Bewusstsein per­manent um das Phänomen des Verschwindens. Warum verschwand man einfach so, wohin verschwand man, in welches Dunkel trat man ein, warum und wie veränderten sich die Dinge? Antonionis „Blow Up“, in der es um die Unsicherheit der Realität geht, war einer von Kurts Lieblingsfilmen.

Kurt war lebenslang von dem Phänomen der „Figures in a Landscape“ fas­ziniert, nach dem gleichnamigen Film von Joseph Losey: menschlichen Ge­stalten, die einsam, unbehaust, oft an abgelegenen Orten der Welt ange­siedelt waren, wie Caspar David Friedrichs „Mönch am Meer“.

Für Kurt war die Eisenbahn ein Verkehrsmittel, mit dem er unbekannte, noch weitgehend naturbelassene Gegenden erschloss. Diese fand er im Osten Europas. Orte seiner Sehnsucht waren Böhmen und Mähren, Galizien, letztlich auch Sibirien. Fast vor seinem Haus, im benachbarten Waldau, gab es einen Schienenstrang, der, wäre er noch befahrbar gewe­sen wie im 19. Jahrhundert, ihn bis nach Wladiwostok hätte bringen können.

Reisen war für Kurt ein Lebenselixier, einerseits, um neue Landschaften zu erkunden, andererseits, um „Dinge zu erfahren, die sich im stationären Zustand nicht ereignen“. „Die ununterbrochene Ortsveränderung“ be­schrieb er einmal als seinen „Idealzustand“. Seine erste Reise führte ihn Anfang der 60er Jahre nach Katalonien in den Heimatort seines Uhrmacherkollegen Francisco. Später lebte er in London, in Paris, Belgrad und reiste durch Irland, Polen, Serbien, Ungarn, mehrfach nach Griechenland und Italien, allein davon dreimal auf die Äolischen Inseln, und in den letzten Jahren auch nach Marokko und durch Südfrankreich. Auf seinen Reisen, insbesondere durch Ost-und Südosteuropa traf er Menschen aus Nationen, die unter dem Terror des 2. Weltkriegs gelitten hatten. Er fühlte sich ihnen verbunden, suchte Anknüpfungspunkte für das, was er das „alte Europa“ nannte, dessen traditionelles Lebensmodell gewaltsam zerstört worden war. In dieser Hinsicht waren seine Reisen auch praktische Trauerarbeit.

Zu Kurts Kosmos gehörten auch die Wolken, deren Formenvielfalt er stu­dierte, weil er wusste, dass ihre ungegenständlichen Formationen letztlich den Gesetzen der Meteorologie folgten. Wer in Kurts Werk die Suche nach Entgrenzung wahrnahm, sollte nicht vergessen, dass sein erster Beruf der eines Uhrmachers war, der beseelt war von dem Wunsch zu wissen, was die Welt im Innersten zusammenhält, und der bei allem vermeintlichen Chaos in einem höheren Sinne das Prinzip der Ordnung schätzte. So brachte Kurt auch dem französischen Insektenforscher Jean Henri Fabre große Vereh­rung entgegen. Im Mikrokosmos der Insekten vermutete er ein Abbild der größeren Welt.

In Kurts Londoner Zeit strahlte die BBC eine Sendung über deutsche Literatur der Gegenwart aus. Ein Satz von Peter Handke beeindruckte ihn: „One can continue to hate, and one can continue to watch“, ein Satz, mit dem Kurt sich identifizieren konnte. Beobachten und Verstehen wollen, waren auch die Triebkräfte seines Handelns. Er verstand es, Zeichen, kleinste menschliche Gesten oder Spuren der Natur zu lesen.

Den Menschen Kurt Benning in seiner Komplexität zu erfassen, ist noch unmöglich, z.B. ist die Zahl der Bücher, die er las, scheinbar unendlich. Zu seinen Säulenheiligen zählten Franz Kafka, Robert Waiser, Thomas Bernhard, anfangs auch Albert Camus und Samuel Beckett, später W. G. Sebald und Andrey Stasiuc, u. v. a.. Mit ihnen schärfte er sein Bewusst-sein, ebenso wie mit den Künstlern und Filmemachern, die ihm wichtig waren, auf die ich hier im Einzelnen gar nicht eingehen kann. Wie kann man wie Kurt einerseits einen Filmregisseur wie Andrei Tarkowski verehren (besonders dessen Film „Stalker“) und andererseits von dem zarten Jünglingsbildnis eines Anthonis van Dyck in der Münchner Pinakothek so ergriffen sein, um zu sagen: „Van Dyck war immer einer meiner Lieblings­maler“. Um Kurts Gedankenwelt gerecht zu werden, bedürfte es einer Biographie, die er sich selbst so sehnlichst wünschte und zu deren Gelingen er immer wieder neue Bausteine lieferte. Aber er wusste auch um die Schwierigkeit eines solchen Unterfangens, weil nur vergleichsweise wenige seiner Ideen den Weg in abgeschlossene Werke gefunden hatten. Immer stärker beschlich ihn die Ahnung, die meisten seiner Werke nicht mehr abschließend bearbeiten zu können. Zudem war er sich der Tatsache bewusst, keinen wiedererkennbaren Stil ausgebildet zu haben, der ihm auf den Kunstmärkten dieser Welt dauerhaft Aufmerksamkeit und Anerken­nung hätte sichern können. Aber das wollte er auch gar nicht, und letztlich war gerade das seine Stärke. Seinen Kritikern hielt er entgegen, dass in seinen Werken „den wechselnden Erscheinungsbildern ein gemeinsamer Gedanke zu Grunde liegt, der sich erst im Zusammensetzen von Verschie­denartigkeiten erschließt.“ Eine Ähnlichkeit mit der Forschungmethode Aby Warburgs drängt sich mir auf.

In vieler Hinsicht blieb Kurt ein Unvollendeter, der uns noch viele Jahre be­schäftigen wird, weil seine Diagnosen und Gedanken zur Zeit ihre Gültigkeit bewahren werden. Es wird Zeit brauchen, um in das Labyrinth seiner Projekte einzudringen. Auf dem Boden in Kurts Wohnung in München mit ihren 8 oder 10 Räumen, Wohnraum, Schlafzimmer, Abstell­kammern, Badezimmern, Vorraum liegen Stapel von Papieren, Büchern, Photos, Zeitungsartikel verstreut. Jeder Stapel war in Kurts Augen ein „Stollen“, den es noch zu ergraben galt: alles Vorarbeiten für ein umfas­sendes Opus, das einen Zeitspiegel ergeben sollte. Das Projekt der Video-Porträts, das derzeit im Kolumba Museum in Köln zu erleben ist, er­scheint in dieser Perspektive wie eine Vorankündigung. Die vor kurzem für Kurt gegründete Kurt Benning Stiftung wird bemüht sein, noch viele seiner Projekte, die er in einem seiner letzten Briefe aufführte, umzusetzen.

Kurt war ein Suchender, Mahner, Denker, Schriftgelehrter; seine Botschaft war der Wunsch, mit unserer Welt acht- und sorgsam umzugehen und der „Wahrnehmungs- und Wirklichkeitsvernichtung“ unserer Zivilisation entge­genzutreten, und dies mit einer inneren Haltung, die er in seinen Briefen mehrfach mit dem Begriff der Demut umschrieb. Kurt hätte sich mit seinen Ansichten auch politisch engagieren können, doch das war nicht sein Feld. Für mich, der ich ihn viele Jahre kannte, war er ein christlich denkender, an die allmächtige Schöpfung glaubender Mensch. Insofern ist dieser Ort, an dem wir uns hier ein letztes Mal um ihn versammeln, auch der richtige Ort, seiner zu gedenken.

Mein letzter Gedanke gilt Dir, liebe Noa. Mögest Du Trost finden über den Verlust Deines lieben Papas und Dich immer daran erinnern, dass Dein Papa ein Mensch war, der sich um den Zustand der Welt sorgte und ande­ren Menschen mit Aufmerksamkeit, Achtung und Respekt begegnete, – und dass er ein wahrhaft bedeutender Künstler war. Wir alle wünschen uns, dass er in Frieden ruhen möge.