Zeitunglesen

Eine Danksagung an die SZ

Lesertypen

Ich weiß noch, wie meine Großmutter, wenn sie sich mal eine halbe Stunde ausruhen konnte, die Zeitung zur Hand nahm, nicht unbedingt die vom Tage, sondern vielleicht ganz unbeabsichtigt ein Exemplar vom letzten Sommer. Mit der Leselupe übers Papier gebeugt versuchte sie, einzelne Wörter zu entziffern und diese dann langsam zu Sätzen zusammen zufügen, indem sie leise vor sich hin sprach. Hin und wieder legte sie die Zeitung auf den Tisch, und glättete das faltige Papier mit der flachen Hand. Wenn sie in ihrer Lektüre an eine Stelle kam, deren Inhalt ihr ungebührlich erschien, wiederholte sie die Sätze, noch genauer lesend, mit erhobener Stimme, legte dann die Lupe mit entrüsteter Miene auf die Zeitung und sah mich an: Kannst du dir das vorstellen? Nun stell dir das doch mal vor! Mein freches Grinsen darauf hin, weil ich von der Welt doch schon soviel wusste mit meinen 15 Jahren, erboste die Großmutter so sehr, daß sie augenblicklich das Zimmer verließ und sich wieder einer nützlichen Tätigkeit hingab, um den Ärger zu verwinden. Dies ist, soweit ich mich erinnere, wohl meine früheste Erfahrung mit dem Zeitunglesen gewesen.

Eine andere Szene, die mir einfällt, ist die, in der ein alleinstehendes älteres Ehepaar sich gegenseitig etwas aus der Zeitung vorliest. Die Frau fragt, möglicherweise, nach einem bestimmten Wort für’s Kreuzworträtsel, während der Gatte einen ihn interessierenden Zeitungsartikel referiert. Es handelt sich also um einen Dialog, der sich zwischen verschiedenen Sparten des Zeitgeschehens abspielt.
Nicht viel anders verhält es sich unter Zeitgenossen, die sich über Zeitungsinhalte austauschen; man kann ja, Gott sei Dank, verschiedener Meinung sein. Für weiterführende Gespräche sind dann immer noch Themen offen, das Wetter betreffend, oder Beziehungsgeschichten.

In der überwiegenden Mehrzahl befinden sich jedoch die einsamen Zeitungsleser, die alle zeitgleich dasselbe lesen, sei es in Stuttgart, Straßburg, Saarbrücken, in Berlin, Basel, Bielefeld oder München, Mannheim, Mülheim. Hat man jetzt einerseits das Bild eines dunkel gewandeten Herrn vor Augen, am Lift eines Hochhauses wartend, in der Linken das aparte Köfferchen und unter den Arm geklemmt das druckfrische, noch gänzlich ungelesene Zeitungspaket, so sieht man doch ebenso den Handwerker, wie er nach dem Mittagessen die noch nicht ganz ausgelesene Zeitung in praktischer Achtelfaltung in der Jackentasche verstaut.

Weitaus seltener begegnet mir der Mann mit dem Einkaufswagen, der stets bis an den Rand mit Zeitungen beladen ist. Nicht unsympathisch ist mir sein von einem dunklen Vollbart bewachsenes, stets freundlich lächelndes Gesicht. Er komme, wie er mir einmal sagte, aus Südtirol. Wenn ich ihn sehe, in den südlichen Straßen von Schwabing, ob Sommer oder Winter, denke ich immer: in seinem gefüllten Einkaufswagen führt er das gesammelte Wissen wie ein Gewicht der Welt mit sich herum.

Zeitunglesen in öffentlichen Lokalen ist in den letzten Jahrzehnten immer schwieriger geworden, zumindest westlich von Wien. Allein schon deshalb, weil die einst eigens dafür geschaffenen architektonischen Gehäuse bis auf ganz wenige gänzlich verschwunden sind. Mit dem Verschwinden der äußeren Bedingungen des Lesens ist auch die Zeit selbst verschwunden. Zeit, der man sich in verschwenderischem Ausmaß und mit Muße hingeben konnte bei Kaffee oder geistigen Getränken, in einer aus heutiger Sicht traumhaft anmutenden Stille, einer Stille, verursacht nur von den sachten Schritten eines Obers, verhaltenem Gemurmel an entfernten Tischen oder von undeutlichen Geräuschen aus der Tiefe des Raums. Selbst das leise Klirren eines Glases beim Absetzen auf marmornen Grund, das Rascheln von Papier hie und da, all das liegt ja beinahe schon jenseits der Wahrnehmungsgrenze.

Wer heute in einem Wirtshaus, Restaurant, Café oder sonstigen Lokalitäten die Zeitung aufschlägt und sich darin vertiefen will, muß sich immun gemacht haben gegen enorme Geräuschkulissen und verminderte Lichtverhältnisse. Wer im allgemeinen Tumult das Lesen immer noch nicht lassen kann, ist selber schuld. Schließlich befindet man sich ja an einem öffentlichen Ort der Begegnung. Bei einbrechender Dunkelheit wird, entsprechend den draussen herrschenden Lichtverhältnissen, das ohnehin dünne Licht noch weiter herunter gedimmt, wodurch die Kerzen auf den Tischen umso besser zur Geltung kommen und die gemütliche Atmosphäre steigern. Unter solchen Verhältnissen geübte Leser sind, besonders im warmen Schein einer Kerze, wie Inseln der Konzentration und Ruhe. Sie wirken auf die Umwelt in provokanter Weise asozial, entziehen sie sich doch durch ihr eigenbrötlerisches Verhalten der allgemeinen Kommunikation.

Gelesen wird auch und immer noch in den öffentlichen Verkehrsmitteln, sofern man sich nicht damit begnügen mag, das Ende der Reise untätig abzusitzen oder bloß gedankenverloren aus dem Fenster zu schauen. Es soll Leute geben, die sich genau erinnern, mit welcher Lektüre sie welche Reise verbracht haben. Besonders auf längeren Bahnstrecken kann man die eigentümliche Erfahrung machen, daß sich der Lesestoff mit der Gegend, die man durchfahren hat, verbindet, obgleich beides gar nichts miteinander zu tun hat. So taucht in der Erinnerung oft ein bestimmtes Buch oder ein längeres Zeitungsfeuilleton gemeinsam mit der Landschaft auf, durch die man sich lesend bewegt hat. Das Lesen in überfüllten Nahverkehrszügen, S- oder U-Bahnen ist weitaus schwieriger. Einen mir unvergeßlichen Eindruck haben englische Zeitungsleser auf mich gemacht, wie sie es in der rush hour in den völlig überfüllten Zügen der Londoner Underground fertig bringen, die großformatigen Blätter ihrer Zeitungen umzuwenden und diese auch noch im Knick exakt falten zu können, was zwischen den dicht an dicht stehenden Reisenden schier unmöglich scheint.

Leserverhalten

Die alltägliche Beschäftigung mit der Zeitung ist eine Lust und eine Last. Muß ich denn wirklich wissen, was Tag für Tag in der Welt geschieht, woran ich nicht im geringsten beteiligt bin, es sei denn passiv, in zustimmender, ablehnender, begeisterter oder zorniger Anteilnahme? Das Gefühl, täglich gut unterrichtet zu sein, für den Hausgebrauch, ist ja nicht ganz verkehrt und sogar von Vorteil, wenn es darum geht, in irgendwelchen Zirkeln, und sei es am Stammtisch, mitreden zu können in Belangen, die das Gemeinwesen betreffen und bewegt. Für einen passionierten Zeitungsleser übersteigt das Lesebedürfnis die rein informative Tätigkeit bei weitem. Zu bestimmten Tagesthemen oder Krisen von weltbewegender Bedeutung werden oft die anderen großen Blätter aus dem In- und Ausland sowie die einschlägigen Fachzeitschriften zum Vergleich herangezogen. Oft ist auch die Formulierungskunst eines Feuilletonisten oder Rezensenten ebenso bewundernswert und gleichrangig wie sein ohnehin höchst interessanter Gegenstand, und wird als bleibender Wert und zeitgebundenes Zeugnis ins Archiv integriert, mögen auch andere Generationen über den selben Sachverhalt wieder anders urteilen.

Ich nehme jetzt mal die SZ vom heutigen Tage durch, Dienstag, 9. März. Zunächst werden die Abteilungen Wirtschaft und Sport ausgemustert, auch mit der Wellness-Beilage kann ich nichts anfangen. Bei anderen Ausgaben würden auch die Teile Mobiles Leben, Immobilien, und sämtliche Werbebeilagen sowieso, unter den Tisch fallen. Doch bevor das in den Papierkorb wandert, blättere ich auf Verdacht die Seiten im Hinblick auf interessante Abbildungen für mein privates Archiv durch, da ja auch hier gelegentlich bemerkenswerte, über das Genre hinausreichende Bilder auftauchen.

Nach dem Vorsortieren nehme ich mir zunächst den eher verdaulichen München-Teil vor, der dennoch mit Aufmerksamkeit durchgesehen werden will. Der Ökonomie des Lesens ist es zuträglich, nicht sofort mit der schweren Kost aus dem Feuilleton, der Literaturkritik oder anderen aparten Einlagen zu beginnen, weil sonst oft kein Nerv mehr übrig ist für Leichteres, wie etwa den immer wieder erbaulichen Reiseteil. Andere würden vielleicht sagen, hier wird das Pferd von hinten aufgezäumt.

Der Lokal- oder München-Teil hat heute, urtypischerweise, etwas zu vermelden über die Weißwurst-Tradition, mit einem Bild vom stets gut gelaunten Oberbürgermeister. Weiter hinten, unter der Rubrik jetzt.muenchen die Überschrift: „Bist du ein echter Münchner?“ – die Frage muß ich mir nicht mehr stellen lassen, bin ich doch ein vor über 30 Jahren aus dem östlichen, damals sogenannten Notstandsgebiet in die Landeshauptstadt zugereister Bayer. Schwerer mit dieser Frage tun sich Leute, die von jenseits der „Weißwurstgrenze“ kommen, aber schon genauso lange in der Großstadt tätig sind. Gerne würden sie sich, weil bestens assimiliert, zu den Hiesigen zählen. Zum Thema passend gibt es neuerdings und lobenswerterweise die Spalte merhaba Münih! Hallo München, der deutsch-türkische Alltag. Unter Münchner Kultur in der heutigen Ausgabe eine Hommage an den Münchner Galeristen Otto van de Loo zum 80. Geburtstag. Dazu ein sympathisches Foto vom Galeristen neben Carla Schulz-Hoffmann von den Bayerischen Staatsgemälde Sammlungen. Außerdem „Die Farben und das Licht“, eine Ausstellung von Hubertus Reichert und Bernd Zimmer. Immer gut zu wissen, was die Kollegen so tun.

Im Reise-Teil geht es um Sextourismus und was man dagegen tun kann. Das Hauptaugenmerk gilt diesmal Ungarn als einem der Länder, die in die EU aufgenommen werden. Man sieht ein repräsentatives Bild der Stadt Budapest mit der dominanten Kettenbrücke, die sich über die Donau spannt. Auf der selben Seite wird ein neues Buch von Györgi Dalos vorgestellt. „Ungarn in der Nußschale. Geschichte meines Landes.“

Bevor wir zum harten Kern der Zeitung, dem Feuilleton, vordringen, noch ein Blick ins Flaggschiff, den ersten Teil der Zeitung. Da das alleraktuellste Weltgeschehen – vergleichbar nur noch der Ziehung der Lottozahlen – und auch das ohne Gewähr – ja im Fernsehen schon am Vorabend abgehandelt wird, ist man vorab hinreichend informiert. Trotzdem kann es nicht schaden, auch tags darauf noch die Analysen zur Lage schriftlich zu studieren. Im Großen und Ganzen geht es um den Irak, der „erste Schritte zur Demokratie“ macht, so die Titelzeile. Die oberste, in grün gehaltene Zeile lautet „Hauptschüler – das schwache Geschlecht“, das heutige Thema auf Seite 3. Im kleiner Gedruckten liest man: „Leere Wiegen sind Italiens größtes Problem“, „Das Leben geht weiter“, „Niemand singt mehr richtig“, „Aktienkurse steigen“, „Große Ratlosigkeit“. Und so weiter. Natürlich ist es ungerecht, auf die zitierten Headlines nicht weiter einzugehen, weil sich so kein rechter Zusammenhang herstellt. Der Zusammenhang besteht allenfalls darin, daß all diese Vorgänge gleichzeitig passieren und auf ein und derselben Seite genannt sind. Daß auch in Italien die Geburtenraten sinken, mag vielleicht überraschen, hat aber nichts damit zu tun, daß das Leben weitergeht. Weiter geht das Leben nämlich trotz Wahlniederlagen der Österreichischen Volkspartei ÖVP. Man muß das im einzelnen nicht weiter verfolgen. Die Aneinanderreihung blindlings heraus gegriffener Sätze hat aber fast schon die Qualität eines poème trouvé.

Endlich im Feuilleton angelangt, stoße ich auf eine Überraschung. Wieder geht es, wie schon im Reise-Teil, um Ungarn. Auch hier unter dem Vorzeichen von Großeuropa. „Ungarn sehnt sich nach Europa und ist doch eifersüchtig und wehleidig auf seine abgeschlossene Besonderheit bedacht.“ Den sehr lesenswerten Aufsatz hat László Földényi geschrieben, von dem ich ein Buch über Melancholie gelesen habe, der dominanten Gemütsverfassung der Magyaren. Der Artikel, zusammen mit dem Bild vom Budapester Heldenplatz, dem Hösek ter, wie die Ungarn sagen, ist für mich eine indirekte Wiederbegegnung mit dem Land wie mit dem Autor, den ich vor vielen Jahren in Budapest getroffen habe, im Ernst-Museum. Außerdem eine Rezension zu einem Buch über Anton Raphael Mengs „Leben und Wirken“ unter der Überschrift: „Aus der Asche des ersten Raphael“. Auf Seite 14 „Der über dem Tal hochragende Nordwesttrakt des Klosters Hilandar ist vollständig ausgebrannt“, – die Unterschrift zum Bild des serbischen Klosters auf dem Berg Athos, das ich meiner Bildersammlung einverleiben muß.
Und auf der selben Seite rechts „Weit geschlossene Augen“; das klingt wie „Eyes wide shut“, dem Titel des letzten Films von Stanley Kubrick, hat damit aber gar nichts zu tun. Hier geht es vielmehr um Mannheim, eine neue Intendantin und um eine Opernkontroverse. Damit wären wir fast durch mit dem heutigen Feuilleton, einer nicht gerade idealtypischen Tagesausbeute. Es hat sich auch keiner meiner Lieblingsautoren zu Wort gemeldet.

Es ist nun nötig, zurück zu kommen auf bislang Unerwähntes. Ich fange nochmal von vorne an, mit dem Streiflicht gleich auf der ersten Seite. Es ist mir fast unmöglich, diese nur 73 Zeilen lange Spalte nicht zu lesen, die Tag für Tag mit unerhörtem Witz und gleichbleibender Qualität von wechselnden Journalisten geschrieben wird. Mit der Erfindung des Streiflichts hat sich die Riege der SZ-Redakteure einen zusätzlichen Stressfaktor auferlegt. Mit dieser Kurzanalyse des Tages, die sich nur scheinbar an einer kuriosen Banalität aufhängt, wird ein Monopol besetzt, dessen Nachahmung sich von selbst verbietet und von vornherein zum Plagiat verurteilt wäre.

Die thematische Besonderheit des Streiflichts ist eng verwandt mit dem Vermischten. Alles was sich wegen Geringfügigkeit eher am Rande halten soll, oder auch mangels eindeutiger Definition keinen Einlaß findet in die großen Ressorts, muß unter Vermischtes ein stiefmütterliches Dasein fristen. Solche Nebenschauplätze sollte man indes nicht leichtfertig außer acht lassen, denn diese kargen Meldungen enthalten manchmal, ähnlich einem Klappentext, die Kurzfassung ganzer Romane, wie unlängst die Notiz über die Auffindung der Beagle, mit der Charles Darwin die Welt umsegelt hat. Man fragt sich unwillkürlich, wie es geschehen konnte, daß das berühmte Schiff solange unbekannt verblieb, denn man entdeckte es unweit des englischen Küstenstädtchens Essex.

Als Konrad Bayer, ein inzwischen vergessener Dichter der Wiener Gruppe, seinen Roman „Der Kopf des Vitus Bering“ schrieb, konnte er nicht wissen, ob der als verschollen geltende Entdecker je aufgefunden werden würde. Das geschah lange nach dem Tod von Konrad Bayer im Jahre 1964. 1991 wurde Berings Leiche unter einem Steingrab auf einer unbewohnten Insel zwischen Sibirien und Alaska in der nach ihm benannten Beringstraße gefunden. Dieses Ereignis ist der SZ seinerzeit, am 23.8.1991, eine Notiz wert gewesen. Seitdem hängt dieser Zeitungsausschnitt, ein Zettel von der Größe einer Streichholzschachtel, an der bezeichneten Stelle auf meiner Weltkarte an der Wand neben meinem Bett.

Das Feuilleton, wie schon gesagt, wird meist zuletzt gelesen, oft sogar nicht mal am Tag des Erscheinens. Mit einem geringeren Verfallsdatum ist es weniger als andere Berichte dem Diktat der Aktualität unterworfen. Statt eingehenderen Betrachtungen soll hier nur eine Besonderheit des Feuilletons behandelt werden, die Aufsatzüberschriften.

Beim Kreieren von Überschriften und Untertiteln sind Ehrgeiz und Geistesgegenwart der Redakteure gefragt, um aus dem Fundus der Kulturgeschichte geflügelte Worte abzurufen und mit gewitzter Verballhornung in einen anderen Zusammenhang einzubringen. Qualität und Wiedererkennungseffekt solcher Neuschöpfungen fallen oft sehr unterschiedlich aus, entsprechen aber dem Zeitgeist, der Ernsthaftigkeit etwas Unernstes entgegensetzen zu wollen, wie ein leicht verbogenes Zitat des Zitats – einem nicht unwesentlichen Aspekt der Postmoderne. Beispiele:

Nora et Labora (…) Artikel über starke Frauenfiguren im zeitgenössischen Theater.

Mit Haus und Haaren (…) Artikel aus dem Gebiet der Fernsehunterhaltung.

Der Fels in der Wandlung (…) Bericht über Maltas Hauptstadt Valletta.

Die Welt als Welle und Verstellung (…) Bericht über gigantomanische Freizeitprojekte.

Das Design überspielt das Dasein (…) ebenda

Die Macht singt ihre Lieder (…) Kritik zur Karmakar`s Film „Die Nacht singt ihre Lieder“

Strahlung als Metapher (…) Bericht über Elektrosmog und ob Handys krank machen.

Die Verschmelzung von Begriffen zu Einheitszwitterwesen folgt der Tendenz zur Globalisierung und Vereinheitlichung. Ein gutes Beispiel hierfür ist das Wort „Stammheimholung“, Überschrift eines Berichts vom 25.2.04 über das MoMa, Richters RAF-Zyklus und die Deutsche Bank. Ähnlich lautende Wortbildungen wie Cuxhavenedig oder Potsdamsterdam hat die Werbeagentur der Deutschen Post AG erfunden. Der Autor würde an dieser Stelle gerne noch Edinburghausen anfügen. Auch Sprüche, die sich direkt aus der Literatur ableiten, kursieren längst schon in verschiedensten Bereichen und Branchen des öffentlichen Lebens. Achternbuschs Satz „Du hast keine Chance, aber nutze sie“ wurde erst neulich wieder angewandt auf den schwarzen Präsidentschaftskandidaten der USA, Al Sharpton – „Der Mann, der nicht aufgibt. Er hat keine Chance. Aber er nutzt sie.“. Der immer wieder gern lancierte Spruch von der „Entdeckung der Langsamkeit“ ist allerorten sattsam bekannt. Aber wer kennt schon die Quelle des Zitats, den Roman von Sten Nadolny, und wer hat ihn schon gelesen?

Zeitunglesen kann zu einer Droge wie jede andere werden, mit dem Unterschied, daß diese Sucht weder Körper noch Geist bedroht, aber sehr zeitraubend ist. Als Folge einer Entzugserscheinung ist Thomas Bernhard einmal, weil er aus einem bestimmten Grund unbedingt die Neue Zürcher Zeitung haben mußte, an einem Tag 350 km gefahren, wie er selber schreibt, von Nathal nach Salzburg nach Bad Reichenhall, Bad Hall, Steyr und Wels – überall ohne Erfolg. (SZ Wochenende, 7./8. Februar, „Die Kaffeehausaufsuchkrankheit“). Bedenkt man, wie sehr das lasterhafte Zeitunglesen auf Kosten all der Bücher geht, die man schon immer lesen wollte, ist man der Verzweiflung schon ganz nah. Doch noch immer hat mich nicht der Mut der Verzweiflung gepackt, der es möglich machen könnte, 1 Meter hohe Zeitungsstapel, die gelesen werden wollen, in einem heroischen Akt einfach wegzuwerfen. Urlaub als zeitungsfreie Zeit ist eine hinterhältige Illusion. Kaum verreist man ein paar Tage, häufen sich zu Hause die Zeitungen. Kommt man vom Wegsein wieder ins Dasein, dann ist die tagtägliche Realität auch wieder die, die in der Zeitung steht.

Lesezeit ist unproduktiv verbrachte Lebenszeit, erweitert aber den Horizont und gibt Anlaß zu vielerlei Anregungen.

 

Kurt Benning, 2004