Die Katakomben der Kapuzinermönche in Palermo sind eine Touristenattraktion, seit zu Beginn der zwanziger Jahre des 20. Jahrhunderts die Bestattungen eingestellt wurden. 1621 hatten die Mönche ein Kloster gegründet, in dessen Gruft sie die Reichen der Stadt mumifiziert beisetzten. Die ihrem Schutz Empfohlenen sollten würdevoll der Ewigkeit überantwortet werden. Im Sonntagsanzug, in Paradeuniform und im besten Kleid warten die Verstorbenen seitdem im christlichen Sinne auf den jüngsten Tag, um dann – nun unchristlich gesprochen – den Vorteil nutzen zu können, wie aus dem Ei gepellt vor ihren Richter zu treten – eine Armee von 8000 Toten.
Wir erinnern uns: Ein Mann besucht die Gruft, schreitet schweigend durch die Reihen der Toten. Er kehrt zurück ans gleißende Tageslicht, ein trockener Knall ertönt und er bricht tot zusammen; den Todesschützen erkennen wir nicht. Francesco Rosi überraschte die Zuschauer seines Filmes Die Macht und ihr Preis (Cadaveri eccellenti, 1976) mit der Konfrontation von Tod, Leben und Sterben, wie es in dieser Dichte wohl nur für das sizilianische Lebensgefühl stehen kann. Sein Krimi über eine Verschwörung gegen den Staat, der aber selbst schon ein Teil des kriminellen Systems geworden ist, macht die edlen Toten im Nachhinein zu Komplizen der ehrenwerten Gesellschaft und ihr Besucher war schon mehr einer der ihren, denn am Leben. Der Tod als Verfahren der Repression wird hier in einer ganz anderen Form von Säkularisation gesehen, als es sich die Mönche je hätten denken können. Seitdem die Gruft historisch ist und als Spektakel inszeniert wird, zieht ihr makabres Schauspiel auch Generationen von Künstlern in ihren Bann. So reiste 1924 der deutsche Maler Otto Dix, der in den Jahren zuvor mit seinen schonungslos realistischen Gemälden bekannt geworden war, durch Italien. Es wurde ein erholsamer Urlaub; die Schönheit des Südens und die antike Tradition, wegen derer Generationen deutscher Künstler nach Italien gepilgert waren, bot seiner künstlerischen Arbeit nichts. Oder fast nichts: einige harmlose Urlaubsmotive, Boote am Strand, einige Studien zu Stechpalmen – und einige Aquarelle aus der Kapuzinergruft in Palermo. Diese Mumienportraits waren Dix’ intensivste Auseinandersetzung mit dem Süden. Nicht das Licht, nicht die Schönheit, sondern das Grauen im Dunkel faszinierten den Künstler in Italien.
Der amerikanische Photograph Richard Avedon, spezialisiert auf Modeaufnahmen in Alltagssituationen und auf eindringliche Portraits berühmter wie unbekannter Menschen, lichtete 1959 zwei wie ins Gespräch vertiefte Tote ab. Der porentiefe Naturalismus seiner Aufnahmen modelliert die Verblichenen ebenso schonungslos wie sonst die Lebenden und führt damit den makabren Sinn der Mönche für die Simulation von Leben vor Augen. Andere Photographen griffen angesichts des Erlebnisses der Versammlung der Toten auf eine Grundform dieser Gattung zurück, auf die Reportage, die abbildet, was der Photograph vorfindet, in der der Photograph aber auch zum Erzähler werden kann. So legte der Berliner Reporter Michael Ruetz in dem Buch Nekropolis, 1978, in vom Blitzlicht – das dem normalen Besucher untersagt ist – grell aufleuchtenden Bildern auch Zeugnis vom Reich der Toten in Palermo ab. Der Filmregisseur Werner Herzog nutzte hingegen die pittoreske Situation in seinem Vampir-Film Nosferatu für Traumsequenzen, die in die Erzählung des Films montiert sind. Das Schlaglicht eines einzelnen Scheinwerfers gleitet an den Körpern entlang, die Kamera fängt Fratzen ein; Licht und Schatten lassen die erstarrten Gesten lebendig werden. Wie in einer Geisterbahn scheinen die Toten dem Zuschauer entgegenzuspringen und aufzuschreien.
Es wirkt durchaus auch lächerlich, wie die Körper nebeneinander mehr hängen als stehen. Den Touristenströmen ist dies ein erheiternder Anblick; man lacht, wohl ohne zu merken, dass damit nur die eigene Angst überspielt wird. Sensationell und spektakulär sind die Mumien von Palermo allemal. Schnell wird aus der Faszination für Tod und Verfall ein dümmliches Gaffen, aus dem Interesse am Ungewöhnlichen die Gier nach Platt-Pittoreskem. Diese Toten mit der Absicht zu photographieren, sie in die Kunst zu bringen, ist also nicht ungefährlich. Oft genug wurden sie sogar für die Hochglanzbroschüren der Tourismusindustrie abgebildet.
Bennings Photos stellen nichts bloß, sie sind nicht einmal im dokumentarischen Sinne ›gut‹; dafür wird zu wenig vom Kontext der Gruft vermittelt. Bei näherer Betrachtung – und die fällt nicht schwer, denn es ist ja nichts zu sehen als das Close Up auf die Köpfe – sind unter den eingetrockneten Zügen Reste der Menschen zu erkennen. Wie Schatten oder wie die Silhouetten in Sand verschütteter Körper zeichnen sie sich ab. Einen grotesken Rest von Individualität bewahren sich diese toten Hüllen, indem sie zu den unterschiedlichsten Masken erstarrten, in den unterschiedlichsten Verwesungsstadien einschrumpelten. Auf die ehemals lebenden Individuen lässt dies kaum mehr schließen.
Das Close Up in natura morta setzt die Toten nicht unserem gaffenden Blick aus. Das verhindern die einzelnen Bilder selbst: »dem Tod ins Auge schauen« wird seit jeher in der europäischen Kunst mit der Metapher versinnbildlicht, einem Toten in die Augen zu schauen. Die Toten aus Palermo haben keine Augen mehr und doch sind die ›Blicke‹ der dunklen Augenhöhlen mehr oder weniger auf uns gerichtet. Einige scheinen wegzuschauen und sich ihre Individualität in dieser Verweigerung bewahren zu wollen.
In den Leuchtkästen von natura morta versinken die Köpfe weniger im Dunkel, als dass sie vom Licht des Hintergrunds überstrahlt werden. So liegen die Gesichter mehr oder weniger im Schatten. Der Lichtrest, der auf sie fällt, nimmt der Nähe Schärfe und Schonungslosigkeit gegenüber dem Abgelichteten. Nicht nur der Tod macht alle gleich; die verschatteten Photos von Benning steigern den Prozess des Immer-Ähnlicher-Werdens. In den wenigen hell ausgeleuchteten Photos wird aber deutlich, dass dies nicht nur ein Effekt der meist dunklen Bilder ist, sondern die natürliche Tendenz zur Uniformität, die durch die wechselnde Lichtführung im Zyklus verstärkt und als Entwicklung sichtbar gemacht wird.
Als Serie gleichförmiger Photos arbeitet natura morta mit einem Rhythmus zu- und abnehmenden Lichts. Es beginnt mit dem Kontrast eines tief verschatteten Totenschädels und einer hell ausgeleuchteten Fratze, deren nackter Schädel absurderweise von einer Mütze gewärmt wird. Dann steigert sich die Reihe vom Dunkel zum Hellen und wechselt erneut. Es ist das Licht, das um die Toten herumzuwandern scheint. In den Katakomben war es natürlich der Photograph Benning, der sich zwischen den Toten und um die Toten herum bewegte. Man könnte an einen Tanz mit den Toten denken.
Was bedeutet Tod heute und welches Bild kann man sich von ihm machen? Natura morta ist ein Dokument dafür, dass den reisenden Künstler – das ist einer, der eben doch nie Urlaub macht – das Gesehene nicht unberührt lässt. Die Photos sind daher mehr als nur ein Souvenir aus Palermo. Auch in einer Zeit, in der Sterben nur noch eine täglich hundertfach in Bildern festgehaltene Geste ist, in einer Zeit, in der Sterben durch die Medien zu etwas Beiläufigem oder gar Würdelosem wird, reagiert Kurt Benning auf das Erlebnis der Kapuzinergruft. Er portraitiert die Toten einzeln und dokumentiert die Spuren der Individualität ebenso wie die Gleichheit in Tod und Verfall. Er erlaubt dem Betrachter keine Ausflucht und fügt den Portraits mit den Leuchtkästen eine Magie und Präsenz des Lichts hinzu, die diese in einer dunklen Gruft hängenden Toten von innen heraus leuchten lässt, als hätten sie noch Leben in sich. Aber es ist nur Erinnerung an Leben.
Andreas Strobl, 1995