Fotografie und Ordnung

Fotografie und Ordnung – zu einem Foto von Kurt Benning
 

Über meinem Schreibtisch hängt ein Foto von Kurt Benning: das querformatige Bild eines Holzbodens, bei dem die Bildfläche ganz von vertikal verlaufenden Dielen ausgefüllt ist; dabei entsteht durch die sich oben verjüngenden Fugenlinien eine Raumperspektive. Zudem sind auf der Holzfläche – im Bildraum etwa in der Mitte angesiedelt – drei gleich große, dunkle „Balken“ zu sehen, die sich jedoch in ihrem graphischen Verhältnis zu den Dielen unterscheiden: Der linke „Balken“ liegt quer zum Verlauf der Dielen; der auch in der Mittelachse des Bildes befindliche mittlere „Balken“ verläuft genau parallel zu den Dielen; und der rechte „Balken“ ist – augenscheinlich in einem 45°-Winkel – gegen diese geneigt. Diese Szene wird von vier schmalen schwarzen Streifen umrahmt, die wohl vom Filmmaterial herrühren. Jedenfalls ist auf dem unteren Streifen links „Ilford FP4“ und etwa mittig „Safety Film“ zu lesen und auf dem oberen Streifen stehen die Ziffern 1, 2 und 3. Dabei ist die 1 etwa 2cm vom linken Rand, die 3 ebenfalls etwa 2cm vom rechten Rand entfernt und die 2 steht exakt in der Mitte und direkt über der Diele, auf der sich auch der mittlere dunkle „Balken“ befindet; zusätzlich scheint es bei den Ziffern von links nach rechts eine „Progression“ der Helligkeit zu geben: Die 1 jedenfalls ist kaum sichtbar, während die 3 noch etwas heller als die 2 wirkt. Das ganze, 40 mal 29,8cm große Foto ist auf eine 4mm dicke Spanplatte aufgezogen sowie rückseitig auf 1982 datiert und signiert.
 

Ohne zu wissen, was für einen Raum dieses Foto abbildet, hat mir diese Szene spontan als Darstellung von Ordnung gefallen. Und die ist offensichtlich in stärkerem Maß das Bildthema als etwa die ästhetische Oberfläche des Holzes oder eine „Mystik des Alltäglichen“ – auch wenn bei näherer Betrachtung die Zeichnung des Holzes in den Blick rückt. So zeichnen sich auf dem Dunkel der „Balken“flächen die Fugen, die Holzmaserung und die Gebrauchsspuren anders ab als auf dem unbehandelten Holz – nämlich umgekehrt, hell statt dunkel. Aber vor allem die Anordnung der „Balken“ ist, mit ihrer Strenge und Klarheit, erkennbar gewollt, obwohl ihr Zweck vielleicht nicht gleich deutlich ist. Doch irgendwann scheinen sich die drei dunklen „Balken“ gemeinsam von dem helleren Hintergrund zu lösen und gewissermaßen zu schweben – oder sich vom Boden zu erheben, in den Raum aufzurichten, wie Figuren die Szene zu betreten. Vielleicht war es diese Illusion einer sich von selbst einstellenden Ordnung, die mich bewog, das Foto über meinem Schreibtisch zu platzieren. Und dass dieser Tisch selbst auch noch auf einem Dielenboden stand, war natürlich eine schöne Bestätigung für meine persönliche Aneignung. Später berichtete mir Kurt Benning, dass das Foto in seinem damaligen Atelier entstanden war; die „Balken“ waren einfach der an drei Stellen auf 1m Länge und Dielenbreite, mit Graphit geschwärzte Boden.
 

Was für mich ein Bild von Ordnung war, ist künstlerisch-technisch betrachtet also zunächst ein Foto von einer Zeichnung in einem Raum – oder sind die Graphitflächen nicht auch schon Malerei? Jedenfalls ist es ein Resultat des Zusammenspiels verschiedener künstlerischer Disziplinen, von Fotografie, Zeichnung oder Malerei und Skulptur. Nur: wo bleibt da die schöne Ordnung in der Arbeit? Nun, vielleicht lässt sie sich darin wieder finden, indem man die „Balken“ als Symbolisierungen von Horizontale, Vertikale und Diagonale deutet – und als Repräsentationen der wichtigsten Darstellungsprinzipien in den genannten bildkünstlerischen Tätigkeitsfeldern: Sie sind die Striche auf dem Grund, die Farbe auf der Fläche, die Figuren im Raum und der von der Kamera „objektiv“ erfasste und vom kühlen Licht aufgezeichnete Gegenstand der Abbildung. Die „Balken“ stellen also nicht nur „Ordnung“ dar, sie repräsentieren zugleich die zur künstlerischen Darstellung notwendigen Mittel. Und damit macht Kurt Bennings Arbeit auch auf einen bedeutenden Aspekt von Kunst aufmerksam, nämlich: Ordnung in die Dinge zu bringen.
 
Sven Koch (veröffentlicht in „Nachrichten von Gestern“ Band 1, 2008)