Für das Jahr 1984 und die Zeit danach

„Für das Jahr 1984 und die Zeit danach“ 1983, Tisch, 13 Stühle, vulkanischer Sand, Tonband.

Von Armin Zweite, damals Direktor des Lenbachhauses, war Kurt Benning eingeladen an der Ausstellung aktuell ´83 teilzunehmen. Das Konzept der Ausstellung bestand darin, aus den 4 Alpenländern (Deutschland, Österreich, Schweiz, Italien) je 10 Künstler einzuladen und mit einer aktuellen Arbeit vorzustellen. Der Titel des Projekts bezieht sich auf den bekannten Roman von George Orwell. Im Mittelpunkt der Installation steht ein runder Tisch, umgeben von 13 Freischwingern, auf dessen Platte etwa 3 Tonnen schwarzer Vulkansand einen Kegel bildet. Aus versteckten Lautsprechern sind Schreckensmeldungen aus aller Welt zu hören.

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© Philipp Schönborn

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Die Vorgeschichte

La Sabbia nera

Meine erste Reise mit Kurt im Jahr 1981 führte uns über Zwischenstopps auf Vulcano, Lipari und Panarea nach Stromboli. Nach einem anstrengenden 4-stündigen Aufstieg saßen wir auf dem Vulkan, harrten der Eruptionen, die unter Donnergroll glühende Aschefontänen hoch in die Luft schleuderten. Kurt hatte Feuer gefangen; eine Installation mit schwarzem Lavasand sollte eines seiner nächsten Projekte sein.

Auf dieser Reise entstand der Bildband „Basiluzzo“, über eine kleine unbewohnte Felseninsel vor Stromboli.

Ohne konkrete Pläne, aber immerhin mit Rückfahrticket, brachen wir im folgenden Jahr auf, um den Plan zu realisieren. Palermo hielt ich für eine gute Anlaufstelle. Ich würde wieder Zeit mit meiner Freundin Irene dort verbringen – man kennt sich auf Sizilien, mindestens ebenso gut wie in Bayern.

Ankunft Palermo, September 1982, wenige Tage nachdem Mafiajäger Della Chiesa auf offener Straße ermordet wurde. Auf die großzügige Einladung von Irenes Vaters, residierten wir in dessen Hotel. Unsere Väter wurden während mehrerer langer Aufenthalte meiner Familie Freunde. Zahlreiche Aquarelle des Malers Erwin Shoultz-Carrnoff, meines Vaters, hingen an den Wänden des Hotels Sausele.

Irene stellte uns Freunden vor, von denen einer, Michele, eine leitende Position für Tourismusförderung auf Sizilien innehatte. Man lauschte gespannt Kurts Ausführungen, die Irene ins Italienische übersetzte. Kurt sprach kein Italienisch und die meisten Sizilianer damals kein Englisch. Irene überbrachte uns ein paar Tage später die frohe Botschaft, dass wir eingeladen seien, im Hotel Conti, auf Vulcano den heißbegehrten Sand auf Privatgrund zu schürfen. Diese Kleinigkeit war also geklärt. Kurt schwebten als geeignete Abfüllbehältnisse Seesäcke aus starker Jute vor. Irene führte uns durch die engen Gassen der Altstadt mit ihren Gerüchen und Stimmengewirr, vorbei an verfallenen Palazzi, zur Einkehr in eine der ältesten Vinotheken in der Vucciria, dem Markt Palermos. Beschwingt entdeckten wir einen kleinen Laden, der passende Säcke anbot; 30 Stück, mehr gab es nicht. Kurt kaufte alle und der Mann freute sich über seinen Tagesumsatz. Nun blieb Zeit, entspannt die Stadt zu erkunden, u.a. entstand die Fotoserie „Natura Morta“ in den Katakomben Palermos. Dank Irenes Verbindungen konnten wir die ersten Hürden abhaken. Diesen Erfolg wollten wir vor unserer Abreise nach Vulcano feiern und stießen in einem Club hoch über dem Meer auf das weitere Gelingen von Kurts Sand Projekt an.

Ankunft Vulcano. Der Geruch fauler Eier schlug uns am Hafen entgegen, mit grünlichem Schwefelschlamm verschmierte Gestalten wiesen den Weg zum blubbernden Naturtümpel, etwas dahinter lag das Hotel Conti mit dem schwarzen Lavastrand. Signora Conti empfing uns freundlich, teilte uns ein gemütliches Zimmer zu und zeigte uns, wo sich auf ihrem Privatgelände der Sand zum Einsacken befand – auf keinen Fall vom Strand! Mit großem Interesse wollte sie mehr erfahren, was Kurt mit ihrem Sand vorhatte. Die Idee einer Installation schien ihr zu gefallen. Bei der ersten Begutachtung der Sandverwehung, von der wir was abtragen durften, wurde klar, dass der mit Steinchen durchsetze Sand erst gesiebt werden musste. Signora Conti wies ihre Angestellten an, Eimer und ein Bausieb bringen. In der Hafenbar ließen wir diesen ersten Tag, wie viele folgende, ausklingen. Wir beschlossen, immer morgens (!) mit der Arbeit anzufangen, da es mittags noch recht heiß wurde. Das Sandschippen erwies sich als sehr kräftezehrend und bald spürten wir Schmerz in Rücken und Armen. Nach der Siesta erkundeten wir die Insel. Die Besteigung des knapp 400 m hohen Vulkankegels Gran Cratere erschien uns im Vergleich zum Stromboli wie ein Spaziergang. Es dampfte aus Erdspalten und wunderschöne gelbe Schwefelkristalle säumten auf kurzer Strecke den Weg. Eine andere Wanderung führte uns in Valle dei Mostri, ins Tal der Monster, so benannt aufgrund bizarrer Lavaformationen. Hier wünschte sich Kurt bis zum Kopf eingebuddelt zu werden, mit Blick aufs Meer. Ich kam seinem Wunsch nach und schoss ein paar Fotos davon.

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Der erste Sack war gefüllt, wir wuchteten ihn auf eine Waage – stolze 90 kg. Nach und nach gesellte sich einer zum anderen und sie lehnten an der Mauer zur Einfahrt in Reih und Glied und warteten geduldig auf ihren Abtransport. Der wollte noch organisiert werden. Signora Conti riet uns, einen LKW zu finden, der Ware nach Vulcano gebracht hatte und leer nach Sizilien zurückfuhr – am besten gleich nach Messina, dort gäbe es Speditionen und das Zollamt. Wir machten uns auf den Weg zum Hafen, wo die LKW-Fahrer in ihr Kartenspiel vertieft waren. Nach ein paar vergeblichen Anläufen fanden wir einen, sogar mit Hebekran, der sich bereit erklärte gegen 50.000 Lire, ca. 50 DM, die Säcke nach Messina zu bringen. Eine gute Woche Plackerei, aber auch wunderschöne Tage am Meer, näherten sich dem Ende. Signora Conti war noch mal behilflich und kündigte einer ihr bekannten Spedition unseren Besuch an. Sie wünschte uns gutes Gelingen des Sandprojekts und gute Heimreise.

26. September 1982, Ankunft Messina. Der LKW-Fahrer lud die Säcke am Hafenbecken ab und wies uns den Weg zur Spedition. Signore Egitto und seine Teilhaberin wirkten leicht skeptisch; 30 Säcke Sand mit einem Gesamtgewicht von 2,7 t. Warenwert? Für den Zoll. Obendrein waren unsere Bargeldreserven so gut wie aufgebraucht und der Versand würde 1,2 Mio Lire, ca 1.200 DM, ausmachen. Wir wollten die deutsche Vertretung in Messina aufsuchen um Geld überweisen zu lassen. Die Dame drückte Kurt lediglich 20,000 Lire in die Hand, die er quittieren musste; damit wir nach Deutschland telefonieren könnten. … Mit dem Geld gingen wir Essen, bestellten einen guten Wein – und übernachteten im Freien hinterm Dom. Am nächsten Tag suchten wir die Spedition erneut auf. Ich versuchte den beiden in bestmöglichem Italienisch verzweifelt zu erklären, wie wichtig Kurt das Sandprojekt sei, wie viel Arbeit und Mühe bisher reingesteckt wurde, wie viele Sizilianer sich schon bei der Verwirklichung eingebracht hätten und nicht zuletzt, dass bei der Realisierung sizilianischer Sand in deutschen und vielleicht auch internationalen Museen ausgestellt werden würde. Kurt nickte zustimmend, rauchte eine Zigarette nach der anderen und formte kleine Aschekegel im Aschenbecher. Ich redete mich um Kopf und Kragen, hielt ständig Blickkontakt, damit sie sehen konnten, dass es uns ernst war. Falls ich die beiden nicht überzeugen konnte, könnten wir die Säcke, und die ganzen Mühen, im Hafen versenken. Schließlich erbarmte sich Signore Egitto und schlug vor, den Transport vorzufinanzieren. Kurt versicherte ihm, nach Ankunft in München die Kosten umgehend zu erstatten. Das Misstrauen war offenbar geschwunden. Signore Egitto vereinbarte mit dem Zoll für den nächsten Tag einen Termin zum Verplomben eines Waggons mit den Säcken und lud uns zum Abendessen und Übernachten bei sich zu Hause ein. Nach der Abfertigung beim Zoll verabschiedeten wir uns und kamen nach etwa 25 Stunden Fahrt in München an. Wie versprochen, überwies Kurt sofort die vorgestreckten Kosten an Signore Egitto.

Bald darauf bereitete er die Sandinstallation für die Ausstellung „aktuell 83“ im Lenbachhaus vor. Titel „Für 1984 und die Zeit danach“.

Rita Zahedi, Februar 2021

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1983

Aufbau der Installation im September. Auf Bild 6: Armin Zweite, der damalige Direktor des Lenbachhauses.

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Leider sind die wichtigsten Teile der Installation nicht mehr verfügbar. Dank der Fotografie von Philipp Schönborn und des alten Tonbands konnte aber eine annähernd adäquate Simulation im Jahr 2021 geschaffen werden.