Walter Kempowski

Sehr geehrter Herr Kempowski,

anbei eine Postkarte von meinem Heimatdorf aus einer Zeit vor meiner Zeit. Wie man sieht ist der Dorfplatz am frühen Vormittag nahezu men­schenleer, denn außer zwei vorsichtig, vorwitzigen Kindern mit ihrer Aufpasstante unter dem Torbogen links ist niemand zu sehen. Viel­leicht sind alle Leute bei der Arbeit auf dem Feld, oder sie verste­cken sich in ihren Häusern. Aber warum?

Wie auch immer, man wird es nicht mehr erfahren können.
Diese fast menschenleere Stadtansicht, – so könnte man es ja auch nen­nen, ist ein Bild mit drei Kreuzen. Das größte von ihnen ist noch nicht lange aufgegangen über dem Osten, dort, wo hinter dem Berg die Tschechei liegt, und dahinter Russland, und noch weiter hinten der Ur­wald von Sibirien. Dies Sonnenkreuz ist an seinen Enden seltsam ge­knickt, und fast möchte man meinen, als wolle es einen Teil seiner ra­dialen Strahlung, seiner radioaktiven Strahlung gewissermaßen, zurück­halten oder verbergen.
Das andere Kreuz hält die Statue des Hl. Nepomuk im Arm, beschirmt und beschattet von einem großen Eichenbaum. Das dritte Kreuz befindet sich selbstverständlich auf der Spitze des Kirchturms, und der Berg, auf dem die Kirche steht, wird Kreuzberg genannt. Wenn ich es richtig sehe, zeigt die Kirchturmuhr auf halb zehn, was mit dem sommerlichen Stand der Kreuz- sonne übereinstimmen dürfte.

Ein viertes Kreuz, – fast hätte ich es übersehen, ist auf dem Dach ei­nes Hauses am Ende des Marktplatzes, gerade unterhalb von dem Kreuz­berg. Dieses Kreuz oder Kreuzchen ist, wie man sieht, von Hand ge­zeichnet. Aus irgendeinem Grunde hat also jemand dieses Haus „ange­kreuzt“, vielleicht um jemanden mitzuteilen: dieses ist mein Haus, oder in diesem Hause habe ich gewohnt. Diese Postkarte ist nie abgeschickt worden, denn ihre Rückseite ist leer. Doch das Kreuzchen auf dem Haus deutet darauf hin, dass die Karte wohl einen Adressaten hätte erreichen sollen, um die Botschaft mitzuteilen.

Diese in mancherlei Hinsicht bemerkenswerte Karte habe ich im Nachlass meiner Mutter gefunden. Und das mit dem Kreuz bezeichnete Haus ist mein Geburtshaus, das Haus meiner Großeltern und Urgroßeltern. Aber warum die Karte mit den 4 Kreuzen nie abgeschickt worden ist? Viel­leicht war es ja nur ein Zeichen der Vorsehung, vielleicht auch der Vorsicht, die mich diese Karte erst zu einer sehr viel späteren Zeit finden ließ, als alles schon längst vorbei und vergangen war. Es ist. nun 62 Jahre her, als ich in diesem mit X bezeichneten Haus geboren wurde, und der Markplatz sieht fast noch genauso aus wie früher, außer dass die Bäume noch größer geworden sind.
Die Kuriosität dieser Post­karte wollte ich Ihrem einzigartigen Archiv nicht vorenthalten.

Mit herzlichen Grüßen, Ihr

Kurt Benning 6.1.08 (Dreikönig)

P.S. Über den Marktplatz von Pleystein sind im Frühjahr 45 die Häftlinge des Lagers Flossenbürg, im Zuge ihrer Verlegung nach Süden, marschiert bzw. getrieben worden, wie meine Mut­ter mir einmal erzählt hat. Tag und Nacht habe man das end­lose Klappern der Holzschuhe gehört, auch Schüsse. Als bald darauf die Amerikaner kamen, wurde die Bevölkerung angewie­sen, die Toten auf dem Marktplatz zu begraben und, gleich­falls auf Anweisung der Amerikaner, ein Denkmal aus Flossen­bürger Granit errichtet. Das Denkmal auf dem Marktplatz exis­tierte bis Anfang der 70er Jahre, bis ein Stadtratsbeschluß befand, das „Schandmal“ müsse entfernt werden.