Der Solitär

Der Solitär oder die Tendenz zum Nichts

Einsame Menschen unterhalten sich selbst, reden mit sich selbst, sprechen sich selber an, sind Autoerotiker. Die Last, Auseinandersetzungen mit einem Gegenüber für längere Zeit zu ertragen, ist ihnen zu schwer. Die Auseinandersetzung mit dem eigenen Selbst ist leich­ter und schwerer zugleich. Leichter ist es, in Überein­stimmung nur mit sich selbst, Entscheidungen zu treffen, oder nichts zu tun. Schwerer ist es, weil ein Außen­regulativ fehlt, dem man freiwillig oder hochmütig entsagt, da unter Umständen ein Lernprozeß erzwun­gen werden könnte, da Urteile anderer nicht in den Entscheidungsprozeß einbezogen, das Urteilsvermö­gen nicht aus der Hand gegeben wird. Solitäre Men­schen sind sonderlich, mißtrauisch, starrköpfig, unbe­lehrbar. Sie wissen was sie wissen nur durch sich selbst. Der Mensch braucht den Menschen nicht, er braucht allein sich selbst. Er leidet fürchterlich durch seine Niederlagen mit seinem janusköpfigen Ichwesen. Siege hingegen sind unspektakulär, wie plötzlich ein­tretende Windstille, unverhoffte Chancen des Aus-ruhens. Der Verlust jeglicher Naivität durch unablässige Selbstbeobachtung erzeugt eine Art skrupulöser Gott­ähnlichkeit, aber ohne den reflexiven Abglanz der Um­gebung. Ein Einsamer ist ein Außerirdischer, der die Welt wunderbar fremdartig erlebt, und nie begreift. Das heißt, er kann die Übereinkünfte der Inner­irdischen nicht nachvollziehen, denen ihre Umgebung vertraut, also normal vorkommt. Insofern ist der Solitär, der Abgeschiedene, zum Künstler, zum Philosophen prädestiniert. Er sieht die Dinge anders. Er ist ein Re­volutionär. Er ist nicht bereit, Gegebenheiten hinzu­nehmen. Er ist ein hoffnungsloser Heide. In Ermange­lung von Gewißheiten lebt er in beständiger Angst, und ist dennoch furchtlos. Er ist ein elternloses Kind. Die Dominante seiner Emotion ist Erstaunen. Dank seiner Autonomie ist er in ständigem Kontakt mit den Geistern, die in ihm wohnen. Er glaubt an nichts außer an das Nichts. Die Phänomene des Tatsächlichen sind ihm nichts als lebende Beweise für das Nichts. Das Nichts aber ist eine großartige Sache, wenn man jenseits aller Sachen noch von einer solchen sprechen kann.

 

Um vom Nichts angemessen schweigen zu kön­nen, sollen alle vordergründigen Seinsgründe kommen­tarlos betrachtet werden, aus einer gewissen Distanz. Einmischungen, Vermittlungsversuche wären Selbst­betrug, Selbstbetrug seitens eines undefinierbaren Selbst. Doch selbst radikale Abgrenzung markiert eine Position, die den Anfechtungen des Dialogs ausgesetzt ist. Dialoge, die nicht zu einem Verschmelzungsprozeß führen, sind sinnlos. Demokratie ist die hohe Kunst der Rechthaberei auf allen Seiten, mit einem scheinba­ren Konsens, und ohne Konsequenzen. Schließlich ist ja das Ideal eine Art Status quo bei steigenden Wachs­tumsraten. Das Welttheater als unüberbietbares Gesamtkunstwerk vor dem Hintergrund des Nichts! Permanent ausverkauft. Das Publikum besteht aus lauter Solitären, denen Possen des Nichts vorgespielt werden. Solitäre sind Selbstzerstörer, deren Anstrengung dar­auf zielt, Fremdkörper in die Welt zu setzen. Selbstzer­störer sind Kulturträger, sisyphoshafte Arbeiter, die not­gedrungen einen Prozeß prolongieren, den sie eigentlich abschließen oder rückgängig machen wollen. Am Ende ist der Anfang.

Kurt Benning, 18. März 1993