Ernst Hermanns

Ernst Hermanns

(veröffentlicht im Wolkenkratzer Art Journal – Februar/März 1984)

Mit einer groß angelegten Werkschau im Münchner Lenbachhaus erfährt Ernst Hermanns eine fast schon überfällig gewordene Würdigung. Anhand der ausgestellten Arbeiten, die zwischen 1960 und 1983 entstanden sind, läßt sich die Entwicklung des Künstlers in diesem Zeitraum anschaulich nachvollziehen. Das Werkverzeichnis umfaßt bis dato 218 Werke, wovon die 51 gezeigten Arbeiten etwa ein Drittel des Schaffens der letzten 23 Jahre repräsentieren. Frühere Werkkomplexe hat man bewußt unberücksichtigt gelassen, weil in der Zeit um 1960 deutlich die Schwerpunkte von Hermanns plastischem Denken sichtbar werden, das er in der Folgezeit konsequent weiterentwickelt hat und ihn heute als einen Klassiker der Moderne erscheinen läßt.

1914 geboren, gehört Hermanns jener Generation von Künstlern an, die sich in Deutschland, nach dem Krieg, einen neuen Anfang, einen eigenständigen Weg suchen mußten. Zu jener Zeit war ihm die Auseinandersetzung mit Moore und Giacometti wichtig, ja unumgänglich. Hermanns dominantes Interesse galt, wie er in einem kurzen Text von 1962 in der Zeitschrift „Das Kunstwerk“ erklärt, einem neuen Ordnungsgefüge des Raums, das er in Gestalt mehrförmiger Plastiken zu finden sucht, wobei Form und Raum gleichgewichtig wären. Aufgrund dieses Interesses bestanden Affinitäten zu Moore und Giacometti, die sich auch mit der Wechselbeziehung zwischen der Einheit mehrerer plastischer Gebilde und einem somit definierten Raum beschäftigt haben. Beide jedoch hätten, so Hermanns, das Thema zugunsten figürlicher Darstellung bzw. existentieller Aussagen aufgegeben.

Was die Intensität des Umgangs mit Räumlichem angeht, so scheint mir an dieser Stelle noch ein Vergleich mit Chillida’s plastischen Arbeiten erwähnenswert. Chillida entwickelt etwa zur selben Zeit plastische Gebilde, die er, unter Verwendung nur eines Bauelements – dem länglichen Kubus – gewissermaßen aus einer gemeinsamen Wurzel herausführt und in den Raum hinein oder hinaus verzweigt. So findet eine positive wie negative Raumbestimmung statt; aktiv durch die Setzung, negativ durch den durch die Setzung sich ergebenden Raum. In Hinblick auf Hermanns sei noch eine Arbeit von Chillida angeführt, die auf dem Prinzip gleich-förmiger Mehrteiligkeit basiert: Aus einem flachen Betonsockel ragen identisch geformte Eisenhaken nach oben und ineinander. Durch den Eindruck des Raum greifenden scheinen die tatsächlichen Abmessungen über sich hinauszugehen, wodurch die relativ kleine Plastik zu monumentaler Wirkung kommt.

Was sind nun die Schritte, die Hermanns zu Anfang der 60er Jahre tut, und die ihn in der eingeschlagenen Richtung konsequent weiterforschen lassen?

Ausgehend von der Überlegung, wie ein neues Ordnungsgefüge, eine neue Organisation des Raums zu finden sei, und dabei gleichzeitig Bewegung sichtbar gemacht werden kann, kommt Hermanns zur Mehrteiligkeit eines plastisch zusammengehörenden Ganzen, wobei unter Mehrteiligkeit vorerst mehrere, verschieden geformte Teile zu verstehen sind, weshalb Hermanns auch den Begriff der Mehrförmigkeit verwendet.

Ein einzelnes, plastisches Gebilde definiert zwar immer schon Räumliches, sowohl durch die Beschaffenheit seines Volumens als auch der Umgebung, in die es hineingestellt ist. Die Möglichkeiten des Umgangs mit Raum werden aber dadurch potenziert, daß sich Plastik in mehreren, separaten Teilen manifestiert. (Im Kubismus beispielsweise hat man versucht, komplexe Beziehungen räumlicher Beschaffenheiten an je einem Gebilde zu exemplifizieren, wodurch Bilder und Plastiken von mannigfachen Durchdringungen nur so strotzen und deshalb vollgepackt wirken.) Nun stehen verschieden geformte Teile zueinander in Beziehung. So ergeben sich also Nähe, mittlere und größere Distanzen, wodurch zu gleich dem Raum zwischen den Dingen eine erweiterte, gewissermaßen mehrdimensionale Definition zukommt. Durch diese erweiterte Möglichkeit, Raum zu definieren, werden die Einzelgebilde von ihrer Aufgabe entlastet, aufgrund der Eigenart ihrer Form Raum zu beschreiben. Sie können nun (wie Hermanns in seinen jüngsten Arbeiten und seit etwa 1980 gezeigt hat), eine vollkommen unterschiedslose Gleichheit annehmen. Nachdem die Raum-Bezeichnung sich von einem auf mehrere Körper verteilt hat, ist die Potenzierung des Geschehens also auch darin zu erblicken, daß nunmehr mehrere, voneinander unterschiedene Positionen im Raum gegeben sind. Mithin rückt das Moment der Bewegung ins Feld der Betrachtung. Freilich bewegt sich in diesem wörtlichen Sinne nichts an Hermanns plastischen Werken, dennoch ist ihnen Bewegung inhärent, auf zweierlei Weise: einmal durch die Veränderung der Position des Betrachters, indem er seinen Blickwinkel verändert, oder auch das Objekt umkreist; zum anderen in der Vorstellung des Betrachters selbst, die sein geistiges Auge vollzieht, evoziert durch das So-Sein des Kunstgegenstands.

Solche, hier knapp angerissenen Überlegungen, die sich am sichtbar gewordenen Werk orientieren können, waren für den Urheber seinerzeit – selbstverständlich in weitaus vielschichtigerem Umfang – Anlaß und Voraussetzung eines noch nicht existenten Werks.

Um bestimmte Wirkungen zu erreichen, mußten bestimmte Wirkungen aufgegeben werden; Wenn Experimente mit dem Material, und vor allem mit der Oberflächenbearbeitung in der Zeit vor 1960 noch möglich und fruchtbar waren, so versagt sich Hermanns von nun an alle Reize einer „individuellen Handschrift“, um Ablenkungen von den neuen, vital gewordenen Intentionen keinen „haptischen“ Halt mehr zu bieten. Das Material ist jetzt durchweg metallisch, hell und glatt, poliert oder geschliffen, verhalten schimmernd. Die weder abweisende noch einladende Perfektion der Erscheinung der Formen hält das Auge des Betrachters auf Distanz. Das Auge ist ausschließlich als Vermittlerorgan angesprochen. Es vermittelt eine vom Werk her statisch vorgegebene Konstellation von Bezügen und Verhältnismäßigkeiten an das (zu mobilisierende) Vorstellungsvermögen des Betrachters. Mit dem Werk in einen geistigen Bezug eintretend, kann er, vermöge seiner Vorstellung, und das im Werk intendierte Moment der Bewegung aufgreifend, alle seine Komponenten gedanklich verändern und ’spielend‘ mit ihm umgehen. So ist die Kernposition eines Werks von Hermanns nicht bloß das, was es darstellt, wie es sich aus sich selbst erklärt, es kommt ihm darüber hinaus der Charakter des Beispielhaften zu: es verleugnet sich nicht, indem es auf anderes, etwas außerhalb seiner spezifischen Beschaffenheit verweist.

Erst nach längerem Anschauen erschließen sich einem die ‚Sensationen‘ dieser auf den ersten Blick eher spröde, verschlossen wirkenden Plastiken. Hat man sich einmal in die Ausgewogenheit der Spannungsverhältnisse hineingedacht und erfahren, ist man, annäherungsweise, am Ort der vormals getroffenen Entscheidungen angelangt, die den Künstler bewogen haben, so und nicht anders zu handeln. Rückläufig kann man sich dann alternative Entwürfe vorstellen, die mit großer Wahrscheinlichkeit auch bedacht, aber verworfen wurden. Anders gesagt: Ausgehend vom Faktum einer präsenten Arbeit ist der reflektorische Nachvollzug sinnvoll insofern, als dadurch der schöpferische Prozeß vom Ursprung, vom voraussetzungslosen Ausgangspunk her begriffen werden kann.

Nahezu gleichzeitig mit der Einführung der Mehrförmigkeit bei Hermanns finden die verschiedenen plastischen Teile des Ganzen eine gemeinsame Basis. Grundfläche, Sockel, Podest oder Plattform begrenzen den Raum, das Feld der Interaktion. Es ist der Ort eines jeweils exemplarischen Weltganzen als reduzierte Darstellung sämtlicher Vorgänge und Phänomene.

Ein weiterer Schritt von entscheidender Tragweite – neben der bereits eingeführten Mehrförmigkeit – ist zu sehen in der Wahl der Formen, die ab 1963 im Werk von Hermanns in Erscheinung treten. Bis dahin hat er, etwa 4 Jahre lang, mit ungleichmäßig geformten kubischen Körpern gearbeitet. Diese fügen sich ohne große Mühe in die Zeit, der sie entstammen. Mit dem Verlassen der blockartigen Gebilde ist auch die letzte Spur, die einen manuellen Formwillen erkennen ließ, verschwunden. Man kann diese Phase als vorbereitendes Stadium für die kurz danach anbrechende Weiterentwicklung betrachten, in deren Verlauf dann alle Momente der Neuerung voll zur Geltung kommen.

Auf einmal, 1963, unvermittelt, und fortan ausschließlich, gibt es eine Syntax geometrischer Grundformen; Kugel, Scheibe, Säule, Stab, Zylinder, Dreieck, Rechteck. Und Rechtecke, Dreiecke, Zylinder, Stäbe, Säulen, Scheiben, Kugeln. Und die Kombinationen verschiedener, ähnlicher, gleicher Formen, sowie die Kombination von Teilen dieser Formen: Kugel/Halbkugel. Schale/Kugel. Kugel/Scheibe etc. Die Abstraktion handgeformter Unnennbarkeit weicht der Banalität anonymer, vorgedachter Formen, einem von altersher bekannten Allgemeingut, verfügbar für jeden und jeden erdenklichen Gebrauch. Solche Formen sind Symbole, Bausteine eines vielfältig verwendbaren Wissens.

Indessen bedeutet die Form einer Kugel, abgesehen von ihrer bloßen Existenz, rein garnichts. Auch eine Säule ohne Fundament und Last ist nur ein von Belastungen und Bedeutungen freier Körper. Solche von Bedeutungen freie Formen setzt Hermanns zueinander in Beziehung. Die Beziehungen der Körper/Formen zueinander ist von Bedeutung.

Ähnlich muß der Maler und Metaphysiker Morandi gedacht haben, indem er immer wieder anders ähnliche Gefäße – also die Existenz von Dingen – zueinander in Beziehung gesetzt hat, wohlwissend, daß es die absolute Konstellation nicht gibt. Aber durch die Kenntnis vom Unterschied kann man aufs Ganze schließen, was in seiner Gänze weder faßbar noch darstellbar ist. Unter diesem Aspekt betrachtet, ist Kunst die Wissenschaft von der Selbsterkenntnis des Menschen. Der Sinn eines Gefäßes ist sein Inhalt, seine Funktion, etwas zu beinhalten. Dennoch ist Sinn und Funktion nicht unbedingt identisch. In dieser Differenz siedelt Kunst, oder das Wesentliche, die Absichtslosigkeit. Sieht man von der Funktion eines Gegenstandes ab, so wird ihm augenblicklich der volle Umfang seiner Existenz zurückerstattet. Er ist bei sich, ebenso wie der Betrachter – ohne Vorbehalt – bei sich sein könnte. Dieses ist die ausdruckslose Selbstverständlichkeit, dieselbe Selbstverständlichkeit, die angesichts (auch) eines Kunstwerks zum Ausdruck kommt.

Da sich in einem Werk immer auch eine Geisteshaltung mitteilt, vermittelt es jenen „Mehrwert“, der über das Einzelne hinausweist, und uns somit die Zusammenhänge erkennen läßt, in denen wir uns bewegen. Das trifft, meine ich, für das Werk von Hermanns in besonderem Maße zu.

Vergleicht man die erste und die letzte der im Lenbachhaus gezeigten Arbeiten miteinander – zwischen denen immerhin eine Spanne von 23 Jahren liegt – so ist trotz ihrer Unterschiedlichkeit eine verblüffende Übereinstimmung festzustellen. In der ersten Arbeit sieht man eine von tachistischem Duktus zerfurchte ‚Landschaft‘, eine unregelmäßig geformte Bronzeplatte, aus der sich etwas herausheben will, oder herausgeschleudert wird aus der dynamischen Anonymität des Grundes: mehrere amorphe Gebilde unterschiedlicher Größe, halb aufgerichtet, senkrecht oder geneigt, stehen in verschieden großen Abständen zueinander in Beziehung. Hier ist schon angelegt, was dann in der letzten Arbeit (1983) mit radikalster Konsequenz durchgeführt ist: auf einer Fläche stehen, in einem gewissen Abstand zueinander, zwei gleiche Rundstäbe. Das matte Schwarz der Fläche und die ebenfalls matte Oberfläche der Stäbe aus Edelstahl absorbieren Schatten und Reflexe, die von der asketischen Nüchternheit der Arbeit ablenken könnten. Die zwei Tonwerte dunkel, hell, korrespondieren mit der Zweiheit der Stäbe. Jeder der beiden Gleichen hat nur ein Gegenüber. Was sie – in ihrer Gleichheit – unterscheidet, sind lediglich die verschiedenen Positionen, die sie innehaben. Die im Verhältnis zur Größe der Fläche relativ kleinen Stäbe stehen in einem solchen Abstand zueinander, der größer nicht vorstellbar ist. Es ist eine Distanz äußerster Gespanntheit und Ruhe. Diese letzte Arbeit von Hermanns ist äußerste Reduktion eines In-Beziehung-Setzens.

1976 wurde Ernst Hermanns als Professor an das Institut für Kunsterzieher in Münster, einer Zweigstelle der Kunstakademie Düsseldorf, berufen, wo er bis 1980 tätig war. Seinen Studenten war er wohl auch deshalb ein geschätzter und beliebter Lehrer, weil er es immer verstanden hat. sich mit bildnerischen Problemen, die nicht seine eigenen sind, intensiv und leidenschaftlich auseinanderzusetzen.

Hingewiesen sei noch auf die bislang umfassendste Publikation zu Ernst Hermanns, Plastische Arbeiten mit Werkverzeichnis 1946-1982, herausgegeben von Heinz Herzer, München, Institut für moderne Kunst, Nürnberg.

Kurt Benning, 1984