Der Bildererfinder

Der Bildererfinder Kurt Benning – »ein Klassiker«?

Andreas Strobl, 2008

»Zwischen den Stühlen sitzt es sich am besten«, weiß der Volksmund. In Kunstausstellungen sind die Photos von Kurt Benning kaum zu sehen gewesen. Unter Photohistorikern sind sie seit Ian Jeffreys bei Thames & Hudson erschienenen Buch A Concise History of Photography bekannt, aber im wachsenden Kreis der Photomuseen kaum zur Kenntnis genommen worden. Der Ausruf eines führenden Photohistorikers in einer der jüngsten Ausstellungendes Künstlers, Benning sei ja ein Klassiker, beschreibt also ein Dilemma. Eine Großzahl von Bennings Photos fällt aus der Künstlerphotographie der sechziger und siebziger Jahre heraus. Es sind klassische, für sich stehende Aufnahmen, die nicht zuletzt mit dem Schwarz-Weiß der Abzüge, aber auch in der Inszenierung ihrer Gegenstände ein Teil der Photogeschichte sind, die bis in die 1960er Jahre eine Photographengeschichte ist. Der Begriff des ›Klassischen‹ reiht die Photos in die ersten 150 Jahre der Geschichte dieses Mediums ein, soll sie aber nicht entrücken. ›Klassisch‹ meint für mich, dass es vielfältige Assoziationen an die Photogeschichte gibt, dass man sich immer wieder verleitet fühlt, diese Bilder in eine Reihe zu stellen. Zwei wichtige Aspekte in der Photographie Bennings – das einzelne Objekt und die Sequenz von Bildern – erinnern an die zwei grundlegenden Positionen in der Photographiegeschichte – den ›besonderen Augenblick‹ und die erzählende Abfolge von Bildern, die Photoreportage, wie sie in den Illustrierten der 1920er Jahre entwickelt worden war. Klassisch meint darüber hinaus auch, dass die immer noch überschaubare Zahl seiner Photos, die in fast vierzig Jahren Arbeit entstanden sind, eine geschlossene Einheit bilden. Man könnte auch von einer unverwechselbaren Handschrift sprechen. Klassisch für einen künstlerisch arbeitenden Photographen ist nicht zuletzt die Konsequenz, mit der die Sujets über Jahre gesammelt werden, so dass sie im Nachhinein eine sinnvolle Reihe ergeben.

Doch wieso sitzt der Künstler zwischen den Stühlen? Zeichnung, Tafelbild, Skulptur, Photographie und Film stehen in der Arbeit von Kurt Benning für sich, und zugleich gibt es Parallelen. Im Wechsel der Medien erhalten sich Bilddenken und Gestaltungsweise, selbst wenn immer die dem jeweiligen Medium entsprechende Form gesuchtwird. Denn der Künstler vollzieht in der Zeichnung oder dem Photo nicht das, was maltechnisch im Gemälde geleistet werden könnte. Insofern steht auch die Photographie in seiner Arbeit für sich. Benning selbst hält die Photographie für autonom gegenüber den anderen Bereichen. Er schreibt: »Sie ist für mich die Möglichkeit der subjektiven Weltbeschreibung. Die Zeichnung ist der Bereichdes Spirituellen, Malerei hat hauptsächlich mit Denken zutun, und Skulptur? Das Physische – vielleicht eine Machtgebärde.«

Dass die bald zweihundert Jahre alte Technik der Photographie heute in der Kunst eine dominante Rolle spielt,hätte in der Studienzeit Kurt Bennings, in den sechziger und siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, kaum einer zu hoffen gewagt. Man muss es heute mühsam rekonstruieren, dass die bildende Kunst dieses Jahrzehnts ganz neue Bereiche erobert hat, die inzwischen als selbstverständliche Bestandteile angesehen werden. Die Erfahrung von Körperlichkeit, Zeit und Prozess wurde in bis dahin ›unwürdigen‹ Materialien und Medien erforscht. Die traditionellen Vorstellungen von künstlerisch nutzbarem Material, der über zwei Jahrtausende ungebrochene Begriff von Skulptur und die jahrhundertelang unangetastete Vorstellung vom Bild wurden radikal in Frage gestellt. Das neue Medium der 1970er Jahre war Video, das ausgehend von der Dokumentation der Happenings, Performances und Installationen eine eigene Ästhetik entwickelte. Erst parallel dazu wurde die Photographie endlich vom Kunstbetrieb beachtet. Bis heute prägt die paradoxe Trennung in eine Photographie der handwerklich und an Fachhochschulen ausgebildeten Photographen und in eine Photographie der bildenden Künstler das Ausstellungswesen und die Bewertungsmaßstäbe.

Kurt Benning ist als Photograph Autodidakt. Ein Weg überden die Photographie Teil seiner Arbeit wurde, war in diesen Jahren nicht ungewöhnlich, es war die Dokumentation von eigenen Aktionen, Installationen und Erkundungen. Man kann einen Themenbereich seiner Photos der Reportage zurechnen. Sammelnd – auch Bilder sammelnd – sichert er Spuren des Lebens. So dokumentierte er zum Beispiel die Lebenswelt des eigenbrötlerischen, eine Burgbewohnenden ehemaligen Flugzeugkonstrukteurs – des Burgtreswitzmenschen – in einer Abfolge von Bildern. Es wurden nicht die routinierten Bilder des Bildreporters, aber auch keine Photos im Sinne der Familienalben, die ihr Personal unbeholfen ins Zentrum rücken. Vielmehr geht es Benning darum, die Umstände sprechen zu lassen, indemsie in ihrer momentanen Erscheinung festgehalten werden. Um seine Achse kreisend und subjektiv auswählend lässt der Photograph seinen Blick schweifen. Benning hat diese beobachtende Haltung in Sequenzen immer wieder formalisiert: der Panoramablick rund um die eigene Lebenswelt des Ateliers – also der Photograph als Zentrum und Gravitationspunkt – oder andersherum: das Umkreisen von vier kubischen Strohballen auf dem Feld, bei dem der Gegenstand zum Zentrum wird. Erst in der Abfolge der Photos konstituiert sich das Bild. (Nur erwähnt sei hier, dass auch der Film in der Arbeit des Künstlers schon in den 1970er Jahren eine Rolle spielte und diese in jüngster Zeit immer wichtiger wird.) Der geometrische Körper bleibteinmal klar erkennbar und löst sich dann wieder im Licht auf, verschmilzt mit den umliegenden Strukturen des gemähten Feldes. Nicht nur die gefundene Form in der Landschaft, nicht nur das Dokumentieren ihrer Erscheinungsformen, sondern auch das Licht als konstituierendes Element der Photographie ist hier das Thema, das sich in derAbfolge der Bilder entfaltet.

 

In vielen Photos von Benning ist wenig Licht. Es ist dies ein Charakteristikum seiner photographischen Arbeit, dass für ihn das Aufzeichnen von Licht die Aufzeichnung desSchattens beinhaltet. Die Dinge versinken im Nichts des Schwarz, scheinen unserem Blick verloren zu gehen und schützen sich so selbst vor unserer Neugier. Dieser Mangel an Licht wahrt Distanz zwischen den Objekten und dem Objektiv des Photographen, zwischen Bild und Betrachter. Dies geschieht in Aufnahmen, in denen der Photograph einzelne Ding isoliert. So ist etwa das Photo einer Zinkwanne ein Gegenbeispiel zu den Strohballen. Dieser altmodische Gegenstand, an keine konkrete Funktion mehr gebunden, wirkt archaisch und führt eine Variante der Kreisform vor, die Benning intensiv beschäftigt und die hier zugleich licht- und raumhaltig ist. Der Schatten ist ebenso konstituierend für die Erscheinungsform,wie er zugleich das Ding zu verschlucken scheint. Hier werden nicht photogene graphische Strukturen entdeckt – das Pittoreske der klassischen Photographie –, sondern die Konstituierung der Erscheinung in Raum und Statik gezeigt, was als parallele Arbeitsweise zur Malaktion undihrem daraus entstehenden, erstarrten Artefakt zu sehen ist.

Eine weitere Reihe von Aufnahmen zeigt Dinge, die zeichenhaft in der Landschaft stehen, oder natürliche Formationen wie eine Geröllhalde (siehe Abbildung S. 52), die in der Schüttung des Materials wie eine Skulptur wirkt. Es könnten Dinge sein, die ein Künstler – vielleicht Benning selbst – so platziert, also im Sinne seiner skulpturalen Vorstellungen manipuliert hat. Es handelt sich aber um Fundstücke, sozusagen gefundene Kunstwerke, da der Begriff des ›Objet trouvée‹ ja bereits anderweitig besetzt ist. Diese Bilder sind einerseits ebenso klassische Photos wie die zuvor beschriebenen, es sind darüber hinaus aber auch wieder Bilder, die das ständige Changieren zwischen den Medien, das Bennings Werk auszeichnet, offensichtlich machen.

Rüdiger Joppien charakterisierte in seinem konzisen Essay von 1993 das Besondere dieser Lichtbilder: »Bennings Photographie zielt auf Dokumentation, die seiner Weltsicht entspricht. Die von ihm behandelten Sujets werden erst in dem Moment zum Bild verdichtet, wo sie sich mit persönlicher Erkenntnis verbinden. Es ist Bennings philosophische Betrachtungsweise, die sie leitet und bedeutungsvoll macht. Für ihn ist jedes seiner Photos ein Moment der Kontemplation, ein Eintreten in eine Welt des Imaginären anhand des Sichtbaren. Viele Photos sind auf Reisen entstanden, aber das fremde Land, das exotische Moment ist dabei nicht wichtig. Alle Darstellungen sind im Grunde unspezifisch und zeitlos. Damit treten sie heraus aus dem Schema üblicher Photographie, die gern auf dem Außergewöhnlichen verharrt, einen entscheidenden Augenblick markiert. Bennings geistige Position ist nicht die der Postmoderne, sondern die Hermetik von Kafka und Beckett. Seine Photos lassen sich parallel zur modernen Literatur ›lesen‹. Die Erweiterung des Sinns, die Benning anstrebt, ist ein Abstandnehmen von der realen Welt und der Auflösung wirklichkeitsbestimmender Denkmuster. Sein Werk ist ein Weg in die mystische Erfahrung. In der Photographie Bennings, die der Ausdrucksfom des Tagebuchs am nächsten kommt, tritt dieser Befund am deutlichsten zutage.« Es soll hier mit keinem Resümee geschlossen werden. Vielmehr bot mir die Auseinandersetzung mit Kurt Bennings Photos im letzten Jahr – in der Phase der Vorbereitung dieser Publikation und der Ausstellung – eine überraschende Wendung. Und Wendungen bereichern in meinen Augen ein künstlerisches Werk. (Auch hier sei nur am Rande erwähnt, dass es zum Beispiel neben den Schwarz-Weiß-Aufnahmen inzwischen auch Folgen von Farbphotographien gibt, die noch einmal eines ganz neuen Nachdenkens bedürften.) Schon lange erzählte der Künstler, dass er sein Archiv einmal sortieren müsse und dabei viele seiner von ihm als wichtig erachteten Photos mit Texten über die Umstände der Entstehung ergänzen wolle. Angesichts der Stille, die von Bennings Aufnahmen ausgeht, erschien mir dies ein schwer vorstellbarer Schritt. Als nun die Texte vorlagen, überraschte es mich, dass sie so autobiographisch geworden waren. Noch mehr überraschte es mich aber, dass es gelang, mit angenehmer Zurückhaltung des Erzählersubjekts die Photos im Vordergrund zu halten. Nur waren die Photos in der Kombination mit den Texten nun andere Photos – für mich – als zuvor ohne Texte. Ich hatte die Photos immer unter formalen Aspekten und im Zusammenhang mit Malerei, Zeichnung und Skulptur gesehen, also skulpturale und zeichenhafte Aspekte zum Beispiel oder Bewegungen wiedererkannt, die umherschweifend gefunden und photographiert wurden. Und auch hierin scheinen mir die Photos ›klassisch‹ zu sein: Sie sind mit einem Mal sehr erzählend; fast bekommen nun sogar die stillen Einzelbilder etwas von Reportagen, nur eben nicht im geschwätzigen Sinne der Hochglanzmagazine oder des Fernsehens. Jetzt tritt ein erzählendes Subjekt zwischen Bild und Betrachter, das das Objektiv der Kamera deutlicher spürbar macht. Der Betrachter als Leser steht sozusagen selbst hinter dem Apparat.

 

Publiziert im Katalog „Nachrichten von Gestern“ Rathausgalerie München 2008