Belgrad 1943 – Gelsenkirchen 1973

Als ich im Jahre 1973 die Beerdigung meines Großvaters fotografierte, wußte ich nichts von der Existenz jener Negative, die dasselbe Thema just 30 Jahre früher darstellen. 1943 hatte mein Vater eine Beerdigung in der Nähe von Belgrad fotografiert. Die Entdeckung dieser Negative war der Anlaß, beide Dokumentationen einander gegenüberzustellen, also zusammenzusehen. Im Vergleich dieser Szenen wird, wie mir scheint, Zeit sichtbar, nicht unähnlich den Portraits eines Menschen in verschiedenen Lebensphasen, die erkennen lassen, wie Identität in gehörigem Maße Veränderungen zuläßt, ohne dabei ihrer Kenntlichkeit verlustig zu gehen. In ihrem äußeren Erscheinungsbild sind die beiden Begräbnisse derart verschieden, daß sie nahezu nur noch über den Begriff, das Wissen um den Vorgang, als solche vergleichbar sind.

Die Sequenz von 1943 spielt sich ausschließlich im Freien ab. Bei den Außenaufnahmen, die zugleich auch den Ausnahmezustand zeigen, tritt das Rituelle stark in den Vordergrund. Mit dem Leid der jungen Witwe konkurriert das Zeremoniell (Aufstellung der Parade, die kämpferische Pose des uniformierten Geistlichen, Führer-Gruß am offenen Grab, Ehrensalut). Die einheimische Bevölkerung im besetzten Gebiet tritt, den Umständen gemäß, kaum in Erscheinung und spielt allenfalls eine marginale Rolle, wie in dem Bild der Arbeiter mit den Schaufeln.

Das in den Bildern überlieferte Geschehen wird durch den historischen Abstand und den Verlust der Erlebnisnähe relativiert; zugleich wächst ihnen eine ästhetische Dimension zu, die zur Zeit ihrer Entstehung weder beabsichtigt noch sichtbar gewesen sein kann.

Auf den Bildern von 1973 wird der Leichenschmaus zelebriert. Alles ist sehr zivil. Das Äußere, die Formen des Beisammenseins verdecken mit Mühe Langeweile, Belanglosigkeit. Hier hat sich eine Gesellschaft versammelt, deren Figuren das Ende von Wiederaufbauzeit und Wirtschaftswunderphase repräsentieren. Im Interieur der Dekoration, welches unecht, aber teuer, eine andere Zeit zitiert, treten die Gestalten, einzeln oder in Gruppen, in Konkurrenz zum Mobiliar. Austauschbar wie die Sitzordnung ist das Dekor, ja die Figuren selbst wirken dekorativ, ohne sich dessen bewußt zu sein oder absichtsvoll zu posieren. Ausstattung, Einrichtungen in beliebigen Stilen und Nachempfindungen schaffen den Rahmen für Ereignisse, die keine mehr sind, weil sie nur noch fassadenhaft vollzogen werden können.

Vergleicht man die beiden Sequenzen miteinander, die sich als Exterior und Interieur gegenseitig ergänzen, so wird man Entsprechungen mit jeweils verschobenen Akzenten finden. Die Lesbarkeit der Bedeutungen summiert sich zu einem wie auch immer lückenhaften Bild einer Zeit im Umbruch. Im Szenario der Begräbnisse, durch 30 Jahre getrennt, wird die Rolle der jungen Witwe von Belgrad in Gelsenkirchen von einer älteren Dame übernommen. Im Krieg und bei anderen Unfällen sind Betroffene und Getroffene eben häufiger jung als in anderen Fällen.

Zuletzt sei auf die Anwesenheit einer Person hingewiesen, die auf beiden Begräbnissen als Statist figuriert. Der Umstand erklärt sich daher, daß mein Vater auf der Beerdigung eines Kameraden seine junge Frau mitfotografiert hat, während ich die Witwe meines Vaters auf der Beerdigung ihres Schwiegervaters mitfotografiert habe. Ein zeitgeschichtlicher Vergleich also, der ohne die Mitwirkung meiner Mutter nicht möglich gewesen wäre.

 

Gelsenkirchen 1973

 

 

Belgrad 1943