Burgtreswitz

Burgtreswitz 1969

Eines Tages kam ich an ein altes Schloß, das ich schon als Kind gesehen habe. Dort lebte ein Mann mit seiner alten Mutter. Nachdem meine Besuche häufiger und regelmäßiger geworden waren, sah es so aus, als sollte ich der beiden Sohn werden.

Eine zeitlang spielte ich mit dem Gedanken, mich in einem unbewohnten Trakt des Schlosses einzurichten. Daraus wurde aber nichts, weil ich als „Sohn“ zugleich in den Status eines Gefangenen geraten wäre. Ich erbot mich, im Haus Dienste aller Art zu verrichten. Es gab immer viele Dinge, die den Herrn des Hauses von seiner eigentlichen Tätigkeit abhielten, und für die Mutter zu beschwerlich waren. Ich war auch, weil es gewünscht wurde, dazu bereit, an die Decke des Hauptsaals das Wappen derer zu malen, die dereinst das Schloß besaßen. Das Wappen sollte auch ein Signum des in Ostpreußen verloren gegangenen Gutes enthalten.

An den Abenden, und wann immer sich Gelegenheit dazu bot, hörte ich mir die Geschichten eines unausgesprochenen Lebens an. Dieses freiwillige Zuhören wurde nach einiger Zeit zur Unfreiwilligkeit, als ich merkte, daß sich mein Interesse der Notwendigkeit der Mitteilungen entzog.

Die Interessantheit der Tragödien anderer ist von kurzer Dauer, wenn sie nicht in tätiger Nächstenliebe aufgeht, oder sich in anderer Form dem Andenken Unbeteiligter erhält.

Ich hoffte auf eine Normalisierung dessen, was ich als Ausnahmezustand empfand, wußte aber erst später, daß dieses Leben lange schon zum permanenten Ausnahmezustand geworden war.

Die Vormittage wurden größtenteils dazu verwendet, die Kontakte mit der Außenwelt aufrecht zu erhalten. In zahllosen Briefen kamen Anfragen aus aller Welt ins Haus, die alle mit ebenso vielen Briefen beantwortet werden mussten. In der Hauptsache ging es wohl darum, den Gedanken – und Informationsaustausch mit einer über die ganze Welt verstreuten Fachwelt zu pflegen, vor allem mit dem fernen Amerika.

Die Mutter schrieb Märchen, die ihr manchmal vom Bayerischen Rundfunk abgekauft wurden. Alle diese Märchen, soweit ich sie zu lesen bekam, erinnerten mich an den Prinzen Yussuf und seine weit verzweigten Männerwahlverwandtschaften.

Ein vollständig eingerichtetes Zimmer mit Blick nach Süden, über das Pfreimdtal hinweg, steht seit vielen Jahren leer. Erika hat hier wohl einmal übernachtet und am nächsten Vormittag fluchtartig das Weite gesucht, obgleich es ihr hier im Grunde gut gefallen hat.

Früher in Berlin, als Ostpreußen noch nicht ganz verloren war, war man aufgehoben im Kreis einer Gesellschaft von Gleichen. Man hat sich dann später, aus welchen Gründen auch immer, hierher in diese kulturelle und landschaftliche Abgeschiedenheit zurückgezogen, wo das Vergangene stärker als anderswo in der Erinnerung lebt. Die vielen, vielen Bücher im Saal, die alle alt waren und die ich allesamt lesen wollte oder sollte, wurden stapelweise vor mir aufgebaut. Doch nie habe ich auch nur eines anders als flüchtig anschauen können. Ständig wurden neue Stapel herbei gebracht und mit ausschweifenden Erläuterungen begleitet. Am nächsten Tag waren immer alle Bücher wieder in den Regalen verschwunden. Mir schien im Nachhinein, daß ich den Inhalt all dieser Bücher ahnend erträumte: Es waren die beredten Zeugnisse aktiver Zeitgenossen, die in Romanen, Gedichten und anderen Stücken auch die Randerscheinungen festgehalten hatten, die ich jetzt statuarisch vor mir sah.

Außer den Büchern gab´s nur noch eins, was auch in Massen vorhanden war: Flaschen, leer getrunkene Weinflaschen, die zu Hunderten  abgelegene Gemächer bevölkerten, irreparable Räumlichkeiten und hohle Dachböden. Da die vielen Flaschen keinen Platz in Anspruch nahmen, der anderweitig hätte genutzt werden können, gab es auch keinen Grund, sie zu entfernen. Und weil immer nur Wein, niemals Bier getrunken wurde, entfiel auch der Rückgabezwang. Für Bierflaschen gab´s damals noch, – wie heute bereits wieder – das altbewährte Flaschenpfand, und die Einwegflasche war noch nicht erfunden worden. Gleichwohl fanden alle diese Flaschen ein vom Umweltschutz unbeschadetes Dasein.

Mitten auf dem Land, erhöht, und von alten Mauern gut geschützt, lag eine Bombe, scheint mir, wenn ich an das Archiv denke, das in einer ehemaligen Speisekammer untergebracht war. Dort verstaubten Dokumente, von deren Brisanz die Öffentlichkeit nichts wusste. Aber die zum gegenwärtigen Zeitpunkt ausgesparte Mitte wird andernorts durchschritten werden.

Die Kleidung des Hausherrn war normal, aber nicht modisch. Er trug ein unauffälliges Jackett von grauer Farbe, das am mittleren Knopf immer geschlossen war. Er hatte dazu passende Hosen und Schuhe an, die nicht mehr neu waren, aber bequem aussahen.

Wenn er sprach und dabei gerade saß, stand er nach einigen Sätzen auf, ohne dabei die Rede zu unterbrechen, und stellte sich hinter den Stuhl, wobei er mit beiden Händen die Lehne hielt. Das ermöglichte eine größere Bewegungsfreiheit für die Beine, die einen ständigen Stellungswechsel nötig hatten. Ich erinnere mich unter anderem an UFO´s, von denen die Rede war. Aber seinerzeit war ich in solchen Dingen recht ungläubig, oder einfach mit der Materie zu wenig vertraut. Ich wurde dann an ein bestimmtes Fenster geführt, wo der genaue Verlauf des Flugobjekts nachgezeichnet wurde. Das war gestern, zwischen 19.04 und 19.07. Die Mutter hat es auch gesehen. Sie sei gerade in der Küche gewesen und ist auf sein Rufen hin über den Flur herbeigeeilt, weil sie nicht wusste, was los war.

Einmal in der Woche muß man ins Dorf zum Einkaufen fahren. Das ist eine lästige und zeitraubende Notwendigkeit, weil man sich überall zu einem obligatorischen Schwätzchen herbeilassen muß. Gleichzeitig erfährt man notgedrungen, wenn auch nicht ganz unfreiwillig, wer der Vater des Kindes ist, das der Herr Pfarrer nicht hat taufen wollen.

Die ländliche Bevölkerung ist entweder schwachsinnig oder niederträchtig. Man soll sich dem niederen Wahnsinn nicht mehr als unnötig aussetzen. Oben im Schloß gibt´s bloß den Himmel, und die Färbung der Luft, die sich am Abend, am Morgen, und den ganzen Tag über draußen vor den Fenstern seit mehr als wer weiß wie lange kaum merklich verändert hat.

Außerdem gibt´s im Hof Hühner, 9 Stück, die können sich selber versorgen. Die Eier die sie legen, findet man auf dem Fenstersims, unterm Treppenabsatz, hinter der Kellertür oder beim Hackstock. Mit Vorliebe halten sie sich in der Einfahrt auf, wo der alte VW steht, der kaum bewegt wird. Im Sommer nämlich, wenn es sehr heiß wird, ist es angenehm kühl in der schattigen Hofeinfahrt, wo sie sich im Erdreich kleine Mulden machen, in denen sie mit hängenden Flügeln sitzen.

Einmal im Jahr, zur Zeit der Sommerferien, kommt der Bruder zu Besuch, der in München ein mittelständisches Leben mit Familie führt. Die Brüder haben sich wenig zu sagen. Aber wenn man sich nur einmal im Jahr sieht, kann man auch das mit ein wenig gespielter Freude ganz gut überstehen.

Die Frau aus der Stadt genießt die frische Landluft und nimmt dafür ein Mindestmaß an sanitären Einrichtungen in Kauf. Die Kinder spielen unten am Fluß oder rennen oben auf den Dachböden herum, oder sie vergnügen sich mit den Hühnern, die sie verjagen. Man ist jedes Mal froh, wenn nach zwei, drei Wochen wieder alles abgereist ist und die gewohnte Ruhe wieder einkehrt.

Das Vermächtnis des glücklos gebliebenen Flugzeugbauers Onigkeit hat in der Fachwelt kaum Widerhall gefunden. Nicht lange nach dem Ableben des Pioniers, der im Alter von 80 Jahren in den Freitod ging, sind seine Papiere hier eingetroffen, zusammen mit alten Zeitungsauschnitten und den Unterlagen vom ehemaligen Deutschen Reichspatentamt. Seine Kreationen, der physischen Leibhaftigkeit vom Zug der Zeit beraubt, haben sich in den Köpfen einiger zu ungenauer Poesie verdünnt.

An manchen Abenden, zur Zeit der Maiandachten, stand ein Strauß Flieder im Zimmer, dessen Duft sich mit der allmählich ausbreitenden Dunkelheit vermischte. Der größte Teil der Zeit verging, wenn man so stand, und das sonnenbeschienene Gemäuer betrachtete, oder irgend etwas in der Hand hielt, wobei man an ganz andere Dinge dachte, oder auch bloß, was demnächst notwendig zu tun war.

Es gab immer viel zu tun. Spätestens vor dem ersten Frost musste der Dachstuhl im Ostflügel repariert werden. Aber der Müllner hat immer noch nicht das Bauholz gebracht, und jedesmal wenn man ihm begegnet, sagt er, daß er es gleich morgen herauf bringen will.

Als die Amerikaner kamen, hat sich hier ein deutscher Offizier versteckt gehalten. Seine Uniform ist noch da, und seine Dienstpistole befindet sich seither unter dem Kopfkissen des Schlossbesitzers.

Kurt Benning, 1980

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Burgtreswitz, August 1982

Als ich nach vielen Jahren Burgtreswitz wieder besuchte, war alles anders.

Zunächst erkannte ich alles wieder, was ich mir in der Erinnerung eingeprägt hatte. Von weitem schon sah man das charakteristische, langgezogene Burggebäude auf der Anhöhe liegen, teils verdeckt vom dichten Laub der alten Bäume. Es war ein schöner Sommertag des Jahres 1982. Auf der Landstraße fuhr hin und wieder ein Auto. Die Bauern arbeiteten im Heu. Die Einheimischen, in ihrer Wortlosigkeit mißtrauisch und neugierig, wenn sie im Ort einen Fremden sahen, waren in ihrer Verhaltenheit nicht unfreundlich, wenn man sie direkt ansprach oder grüßte. Als ich bei der Burg angekommen war, sah ich ein riesiges Loch in der Mauer. Ein Teil der dem Dorf zugekehrten nördlichen Flanke war eingestürzt. Im überwucherten Burggraben, der auch früher schon ein verwilderter Garten war, lag als steile Schutthalde die eingestürzte Mauer. Decken, Böden und Dachgebälk waren eingeknickt, Bretter und gesplittertes Holz ragten bizarr in die Luft. Man hatte ungehinderten Einblick ins Innere der Räume. Im Erdgeschoss sah man durch die dahinter liegenden Fenster den Innenhof der Burg. Die Szenerie erinnerte an eine künstlich-realistische, aber in der Vergessenheit verrottete Theaterkulisse. Im oberen Stockwerk hing von der Decke ein großer Lampenschirm mit Fransen, die sich leicht in der Luft bewegten.

Im Mittagslicht lag alles still und regungslos. Unter dem Lampenschirm, der jetzt im Schatten dieses aufgerissenen Zimmers hing, stand ich zuletzt vor 13 Jahren. In dem geräumigen Zimmer, das der alten Dame als Arbeits-, Wohn- und Schlafgemach diente, waren die Burgleute und ich des öfteren beisammen, währenddessen ich Fotos von den beiden machte, wie sie am Tisch beim Abendbrot unter der Lampe saßen.

Der Einsturz musste sich vor noch nicht allzu langer Zeit ereignet haben, denn die offenen Flanken des alten, gut einen Meter dicken Bruchsteinmauerwerks und der pulverisierte, mürbe gewordene Mörtel, der Berg aus Schutt und hellem Sand, kontrastierte stark mit den dunklen, verwitterten Außenmauern. Anzeichen einer Instandsetzung oder einer zumindest provisorischen Absicherung des gefährdeten Bereichs waren nicht zu erkennen. Vielleicht scheute man die enormen Kosten und betrachtete daher den geschädigten Trakt als irreparabel. Deshalb nahm ich an, daß sich die beiden Bewohner daraufhin ganz in den großen Saal und die angrenzenden Räume zurückgezogen hatten. Ich wusste freilich noch nicht, daß beide, Mutter und Sohn, schon tot waren, und den Mauersturz gar nicht mehr erlebt hatten.

Nun hatte ich aber die Vorstellung, durch die gewaltsam entstandene Öffnung ins Innere der Burg zu kommen, um dann an der Tür zum Saal zu klopfen, wie ein Eindringling, mit dem man nach so langer Zeit nicht mehr gerechnet hatte. Aber der Gedanke, sich im nächsten Augenblick leibhaftig gegenüber zu stehen, erwies sich dann – aufgrund einer anderen Realität – als geisterhafte Phantasie. In der Burg deutete nichts mehr auf die Präsenz menschlichen Lebens. Stattdessen boten sich einem Bilder des Verfalls und der Zerstörung, wie man sie an Orten findet, die schon seit längerer Zeit von Menschen verlassen worden sind. An einem von Spinnweben blind gewordenen Fenster stand ein vertrockneter Blumenstock. In der Einfahrt, an die Wand gelehnt, standen Gartengeräte, seit vielen Jahren unberührt. Auf einer wackeligen Holzbank im Schatten des Hofbogens lagen rostige Nägel, schmutzige Lappen, ein verstaubter Strohhut. Im Hof, wo früher Hühner scharrten, wuchs üppig das Gras; an den Mauern standen die Brennesseln meterhoch. Über dem Treppengeländer hing ein ehemals weißes Strickjäckchen, neben anderen verrotteten Kleidungsstücken. Dies weiße Jäckchen hat die alte Frau gern getragen und ich habe sie darin oft fotografiert, im Frühling zwischen kahlen Obstbäumen, im Hof auf einen Gartenstuhl sitzend, oder in ihrem Zimmer beim Kachelofen.

Überall herrschte eine modrig – humide Atmosphäre. Es roch nach verstaubter, unbewegter Luft. In der weiträumigen Diele im Obergeschoß lag häufchenweise grauer Mörtel am Boden, der von Decken und Wänden abgeplatzt war. Hin und wieder rieselten helle, feine Staubfahnen zu Boden.

Die Tür zum Saal stand offen. Man konnte keinen Schritt tun ohne auf etwas zu treten, was mutwillig zu Boden geworfen war. Unzählige Bücher, zerfledderte Akten, Zeitschriften, Korrespondenzen, Schriftstücke bedeckten im wüstem Durcheinander den gesamten Raum. Die Bücherregale standen leer. Größere, repräsentative Möbelstücke waren verschwunden. Man erkannte noch deren Umrisse, die sich von der nachgedunkelten Tünchung der Wände abhoben und wie helle Schatten aussahen. Auf einigen Stühlen oder Sesseln lagen, zu Haufen oder Stapeln geschichtet, Bücher und andere Gegenstände, die sich jemand herausgesucht und noch nicht abgeholt hatte. Eine alte Leselampe hingegen stand unverändert wie eh und je beim Sofa neben dem Ofen. Um den Ofen lagen verstreut einige Kohlen und alte Zeitungen, sowie alte Speisereste, Eierschalen und dergleichen.

Inmitten dieser Verwüstung, umgeben von den Überresten eines vergangenen Lebens, saß ich einige Minuten lang in einem Sessel. Ich sah die Bilder vor mir und die beiden Menschen, die ich früher gesehen und auch fotografiert hatte – hier in diesem Saal – und das was nun davon übrig war. Ich kam mir vor wie einer, der unerlaubterweise zurückgekommen war aus einer anderen Zeit. Die Stille war so groß, dass ich auf einmal glaubte die Anwesenheit von etwas Unsichtbaren physisch zu spüren. Ich sah mich unwillkürlich um. Aber da waren bloß diese Dinge und Gegenstände in einer vollkommenen Bewegungslosigket. Im Verfall begriffen, und einer sinnvoll scheinenden Existenz enthoben, unabhängig von der chaotischen Zufälligkeit des Zustands, befand sich jedes Ding an seinem richtigen Platz, unverrückbar wie in einer Momentaufnahme, ein memento mori, wie es großartiger nicht darstellbar gewesen wäre. Ich selbst war der einzige Fremdkörper in diesem überlebensgroßen Stilleben.

Ich trat an eines der Fenster und sah hinaus. Es war Nachmittag geworden. Auf der Landschaft da unten, mit ihrem sanften, schwermütigen Horizont, lag der Blick von Jahrhunderten. Menschen und Tiere, Straßen und Autos zwischen Häusern und Geräten, Wiesen, Baustellen, Feldern, Waldstücken und Wegen – ,  die Dinge und Vorgänge im Bild dieser Landschaft waren aufgehoben in einer Selbstverständlichkeit, die niemals innehalten würde, um sich selbst zu betrachten. Die partiellen Bewegungen und Tätigkeiten draußen hinter den alten Fenstern geschahen tonlos. Die dazugehörenden Geräusche schienen wie abgeschnitten und wirkten pantomimisch. Erst beim Geräusch meiner eigenen Schritte entstand wieder nahe Gegenwart.

Im angrenzenden Zimmer, welches das Allerheiligste des Burgtreswitzmenschen gewesen war, war die Tür, weil sie verschlossen war, mit einer Axt gespalten worden. Ein Teil des gesplitterten Holzes hing noch im Schloß. Hier war das Schlaf – und Arbeitszimmer, wo auch wesentliche Teile des Archivs untergebracht waren. Es sah aus wie eine finstere Höhle. Durch das einzige Fenster in der dicken Mauer, welches zudem noch halb mit einem dunklen Tuch verhangen war, drang von außen scharfes Tageslicht. Der tiefe Mauerschacht und das im Gegenlicht sich schwarz abzeichnende Fensterkreuz verstärkten den Eindruck einer Arrestzelle. Am Fenstergriff hing noch der Rasierspiegel; Rasierpinsel und Seifenschale standen auf dem Fensterbrett. An einem Nagel in der Mauerbrüstung hing ein alter Abreißkalender. In der Mitte des Zimmers, mit einem langen Rohr in der Wand verbunden, stand der Ofen, in einer Ecke die eiserne Bettstatt. Die Wände waren geschwärzt von Kohlenstaub und Spinnweben. Der Boden war bedeckt mit zertretenen Büchern, Briefen und beschriebenem Papier. Vom Archiv fehlte jede Spur. Angeheftet an der Wand befand sich eine jener Trophäen, wie sie für Kampfflieger des 1. Weltkriegs Bedeutung hatten. Es war ein Fetzen imprägnierten Segeltuchs, das aus der Rumpfbespannung herausgeschnitten war. Es trug die Aufschrift „Ferdinand“ und die Seriennummer des Flugzeugtyps.

In dem Wust verrotteter Papiere fand ich zwei Sammelmappen, deren Material sich als sehr aufschlussreich herausstellen sollte. Es war ein umfangreiches Konvolut von Etiketten edler Weinsorten. Die andere Sammlung bestand aus Ansichten von Burgen, Schlössern und Herrensitzen aus ganz Europa, in Form von Postkarten, Zeitungsauschnitten oder Abbildungen aus Kalendern und Zeitschriften. Auch kleine handgemachte Aquarelle und Zeichnungen befanden sich darunter, naiv-romantische Darstellungen von verwunschenen Schlössern, Luftschlössern eigentlich; aber auch dramatische Szenen mit Flugzeugen und Wolkengebirgen – Fliegerträume. In einer Ecke stieß ich auf eine altmodische kleine Trockenpresse, wie man sie zum Trocknen von Hochglanzphotos verwendet. Der Anblick rührte mich sehr, da ich wusste, wie unentbehrlich dieses Gerät gewesen war, wurden doch unzählige Photos aus dem reichen Negativ-Material des Archivs in alle Welt verschickt, in regem Austausch mit einer Gemeinde gleichgesinnter Spezialisten und Liebhaber.
In unmittelbarer Nähe der ehemals bewohnter Räume befand sich der „Flaschenboden“. Dieser Raum, größer als der Saal, mit Ziegelboden und zerbrochenen Fenstern, hatte immer als eine Art Rumpelkammer gedient. Er enthielt, neben abgetragenen Kleidungsstücken, meterhohe Stöße alter Zeitungen und Gerätschaften aus einer mechanischen Werkstatt, vor allem Flaschen. Der Konsum von Wein, Sekt und anderen geistigen Getränken war hier eindrucksvoll dokumentiert. Ganz im Gegensatz zu einem gepflegten Weinkeller trat hier eine eindeutige Trennung von Inhalt und Form in Erscheinung. Zurückgeblieben waren leere Formen, der Inhalt hatte sich verflüchtigt. Vor 13 Jahren standen die leeren Flaschen noch in geordneten Gruppierungen entlang der Wände. Im Lauf der Jahre war der Boden aber völlig zugewachsen, nur noch ein schmaler Pfad führte durch den Raum. Eine noch größere Ansammlung von Flaschen entdeckte ich in einem scheunenähnlichen Trakt, den ich früher offenbar nie betreten hatte. Hier war ein regelrechtes Flaschengrab, in der Form eines langgestreckten Hügels.

Aufgrund der drastischen Veränderungen, die seit meinem letzten Besuch stattgefunden hatten, kam ich mir vor wie ein Geist, der Erinnerungen an den Ort des Erlebens zurücktrug. Ich nahm mir vor, den gegenwärtigen Zustand so sorgfältig wie möglich zu dokumentieren, wie ich es auch früher schon versucht hatte. So kamen Bilder zustande, die zugleich wegen ihrer Übereinstimmung als auch ihrer Differenz, Zeit sichtbar werden ließen.

In all dem chaotischen Durcheinander, dem deutlich die Wühlarbeit vandalisierender Eindringlinge anzusehen war, fand ich noch Dinge, die wohl von Angehörigen und Verwandten ignoriert worden waren, mir aber für das Verständnis von den Burgbewohnern wichtig und aufschlussreich schienen. Unter anderem fand sich, neben zahllosen Briefen und einer Unmenge fachbezogener Korrespondenzen, die Abschrift eines Testaments des Vaters, sowie ein umfangreiches Manuskript desselben aus dem Jahre 1946, welches eine Analyse der Nazi-Herrschaft darstellt. In der Masse des Unrats fand ich handgemachte Puppen der Mutter, physische Belege für die Kreaturen, die ihre Märchen bevölkerten; ferner ein kleines plastisches Portrait des Sohnes aus Pappmachè, den hölzernen Propeller eines Flugzeugmodells, ein Schulheft mit Zeichnungen, Berechnungen und Beschreibungen von Flugkörpern, alte Glasnegative und manch andere Indizien eines ganz persönlichen Lebenstraums und Schicksals. (Meine Briefe aus England ließ ich liegen).

Bevor ich die Burg verließ, stand ich noch einmal im Innenhof und sah die Mauern an, Mauern, die nur noch den überwucherten Grund eines unregelmäßigen Dreiecks umschlossen. Ich befand mich in einem Monument vergangener Zeit. Es war wie eine Zeitinsel, an deren Ort die Bewegungen der Umgebung und der Welt nicht mehr registriert wurden.

Am folgenden Tag suchte ich den Postmann auf, weil ich wusste, daß er den Burgbewohnern die wichtigste Kontaktperson zur Außenwelt war. Durch seine Hände ging alle Post, die viele Jahre lang beinahe täglich eintraf beziehungsweise abgeschickt wurde. Er war ein stiller Mann und seit einiger Zeit schon in Pension. Von Ihm und seiner Frau erfuhr ich dann, dass der Herr Krüger vor etwa 2 Jahren gestorben war, die Mutter einige Zeit später, im Altersheim in der Kreisstadt, wohin man sie nach dem Tod ihres Sohnes gebracht hatte. Es sei wohl der Alkohol gewesen, heißt es. Am Schluß hätten sie kaum noch etwas gegessen und fast nur noch von „harten Sachen“ gelebt. Eine Nachbarin habe sie versorgt. Täglich habe sie etwas bringen müssen, „damit es für die Nacht reicht“. Dann habe er sich hingelegt und sei nicht mehr aufgestanden. Die Mutter sei noch bei im gesessen, um ihm etwas zu geben, er habe aber nichts mehr haben wollen.

Die Auskünfte anderer Leute im Ort waren im Detail recht unterschiedlich, aber die Reaktionen beinahe aller Befragten waren gleich: Man tat so als wüßte man nichts genaues, im Grunde aber spürte ich, daß ein Makel angerührt war, über den man ungern sprach. Die meisten Dorfbewohner, die angesichts der Burg aufgewachsen waren, hatten, wie sich herausstellte, erst nach dem Tod der beiden die Burg zum ersten Mal in ihrem Leben von innen gesehen. Ein Umstand, der möglicherweise erklärt, wohin herausgerissene Kachelöfen verschwunden waren, Handwerkszeug, Bilder, und andere Dinge, die man bei Leuten in der Stadt verschoben hatte.

Später fuhr ich zum Friedhof in die größere Nachbargemeinde, um das Grab zu suchen, konnte es aber nicht finden. So fragte ich einen älteren Mann, der zufällig in der Nähe war. Er sah mich wortlos an, unterbrach seine Tätigkeit und führte mich an eine mit Gras bewachsene Stelle. „Da sind sie drunten“, sagte er, und deutete auf eine durch nichts gekennzeichnete Stelle.

Namenlos beide, als hätten sie sich gegenseitig ausgelöscht, hat sich die lange Lebensgemeinschaft von Mutter und Sohn noch ins Grab hinein fortgesetzt. Zum Sohn, der frauenlos geblieben war, hat sich die Mutter ins Grab gelegt. Abgeschieden von der Welt, gefangen in ihrer Einsamkeit, hatten sie sich gegenseitig bestärkt in ihren Vorstellungen, die kein konkretes Regulativ mehr durchbrach. Die Burg, auf deren Schutz er nicht verzichten konnte oder wollte, war für ihn auch zum Gefängnis geworden. Der lebenslange Traum vom Fliegen, oder wenigstens der theoretischen Beschäftigung damit, steht zum Motiv der Burg als selbstgewähltem Verwahrungsort in eigentümlichem Gegensatz. Ein amtliches Dokument, auf das ich zufällig stieß, bescheinigt ihm Untauglichkeit für den praktischen Flugdienst. Einen Posten in leitender Stellung am Deutschen Museum in München hat er ausgeschlagen. Aber große Pläne für Publikationen von vielleicht bahnbrechender Wirkung gab es bis zum Schluß, bis zum Ende aller Illusion, als unwiderrufliche Gewissheit des eigenen Scheiterns eingetreten war, und Hoffnung in Verzweiflung und Resignation umschlug. Den unerfüllten Träumen des Sohnes entsprach die Tätigkeit der Mutter, die Märchen erfand und reizvoll-groteske Puppen machte. Die charmante und gebildete Frau kam aus alten preußischen Adel. In ihrer Jugend, in den 20er Jahren, hatte sie enge Kontakte zum kulturellen Leben Berlins.

In München suchte ich den Enkel und Neffen der Verstorbenen von Burgtreswitz auf. In der Burg hatte ich Photos gefunden, die ihn als kleinen Jungen in den Sommerferien zeigen. Vor mir stand ein junger Mann, der für alle Fragen der Zeit Interesse zeigte. Mit seinem Onkel, über den er kaum etwas wußte, verband ihn nichts, außer der Faszination vielleicht, die über ein technisches Wissen ihren Inhalt sucht. Er lernt, gemäß seiner Zeit, die Programmierung von Computern.

Von ihm erfuhr ich etwas über das Schicksal des Archivs. Unbekannte waren in die verlassene Burg eingedrungen, hatten alles sorgfältig in Kisten verpackt und aus der Burg geschafft. Er entdeckte es aber in einem Gebüsch an der Außenmauer, wo es versteckt lag. Offenbar sollte es später bei günstiger Gelegenheit weggeschafft werden. Zum Pech der Entführer, die wohl gewußt hatten was sie suchten, hat er dann das Archiv einem in München ansässigen Herrn übergeben, der sich als Kollege und Bekannter seines verehrten Onkels vorgestellt hatte.

Was mit der Burg geschehen sollte, wußte der Neffe nicht. Schließlich fiel das alte Gemäuer an die Gemeinde zurück, von der es der Großvater einst für 3000 Reichsmark erstanden hatte.

Kurt Benning, 1984

Insgesamt 76 s/w Fotografien. Seit 2016 im Besitz des Museums Kolumba, Köln.