London, 1971 – 1973
Kurt Benning befasst sich mit dem Phänomen der Zeit. Seine Bilder ähneln in vielen Fällen Montagen; sie enthalten eine Anzahl von Rahmen: den Schaufensterrahmen, sowie Rahmen im Inneren des Schaufensters, die Spiegel einfassen. Vermutlich war Benning in den Jahren 1971 – 1973 besonders sensitiv gegenüber allem, was transitorisch war; andererseits könnte er von einer Kultur beeinflusst worden sein, die sich ihrer Zeit sehr bewusst war – vielleicht als ein seltenes und entgleitendes Phänomen, mit dem man sich beschäftigen musste.
Alle 48 Photos Bennings handeln von der Zeit. Manche nähern sich ihr schematisch. Auf einem Photo von dem Fenster eines Friseurladens (GENTS HAIR DRESSING STYLIST) sind mehrere Varianten des „MODERN STYLING“ (moderne Stilformen) zu sehen. Diese erstrecken sich vom Jugendalter bis zur Mitte des Lebens, in einer Art, wie man das von Spielern der Premier League kennt, die alle diskret aber unübersehbar in der Mitte des Fensters um eine „Durex Gleitcreme Reklame“ zentriert sind. Die verführerische Anordnung weckt die Assoziation von Beischlaf. Was für ein Ausrufezeichen! Dafür müsste es einen Namen geben: Diskretion als Vorbereitung auf den Höhepunkt. Man könnte meinen, dass die Epochen der Menschheit sich zunehmend in den 60er (und auch in den 70er Jahren) widerspiegeln, um dann plötzlich ohne Nachleben aufgegeben zu werden.
In einem enzyklopädischen Photo unter dem Buchstaben N kommen Vergangenheit und Zukunft als komplexe Montage zusammen. Einst, so impliziert die Schrift im Hintergrund, hat der Laden Passbilder hergestellt. Dieser Tätigkeit war noch lebendig, als Benning den Laden entdeckte. Aber inzwischen waren geschäftliche Veränderungen eingetreten, die eine gewisse Verzweiflung mit sich gebracht hatten, indem es z. B. heißt: „Porträts ohne Voranmeldung möglich“. Das Schild eines anderen Ladens verkündet den Ankauf photographischer Ausrüstung zu verschiedenen Zeiten des Jahres. Derart beschriebene Fenster sind voller Anspielungen auf die Zukunft. Handgeschriebene Hinweise wenden sich an die Zukunft des Einzelnen und beziehen dessen Lebenserfahrungen mit ein. Professionelle Photowerbung verspricht eine Welt der Utopie oder eine fiktionale Domäne, die sich ideal genießen lässt. Doch berichten die beschriebenen Zettel des Schaufensters mit dem N von hart verdienten Erfahrungen und gleichzeitig von der Skepsis der Zukunft. Eine Situation ist eingetreten, die zeigt, dass irgendetwas passiert oder verloren gegangen ist, und dass es einen Moment gegeben hat, an dem es zu dieser verwirrenden Entscheidung der Lebensführung gekommen ist.
Der Schlüssel zu all diesen Schaufensterbildern ist, dass sie am Ende einer Epoche und am Anfang eines Abschwungs aufgenommen wurden. Die modernen Zeiten drückten all die nieder, die solche Unternehmen besaßen oder in Miete betrieben. Sie hatten kein Geld für Modernisierung, und ihre Kunden konnten sich nichts Besseres leisten. Infolgedessen mussten die Bewohner des Viertels mit den Reklametafeln falscher Zähne Vorlieb nehmen, die unter dem Aushang „Wir haben noch geöffnet“ nicht einmal kunstvoll arrangiert waren.
Am Ende, so insinuieren diese Schilder, wirst Du eh Deine Zähne verlieren. Ein anderes Ladenschild lautet in netter Schrift, dass es regnen wird und bietet infolgedessen „Regenschirme“ an.
Die Gesamtheit der Photos fungiert als Inventar von Schicksalen in sozial schwachen Gegenden. Die Bilder versammeln eine begrenzte aber voraussehbare Abfolge zukünftiger Ereignisse: Regentage, Zahnlosigkeit und Tod. Handgeschriebene und geduldig zusammengesetzte Montagen sind dabei, von Darstellungen utopischer Zustände verdrängt zu werden, in einer Zeit, in der Anpassungen und Improvisationen nicht mehr möglich sind. Die Jahre von 1971 bis 1973 haben in den europäischen Hauptstädten vermutlich eine Zäsur hinterlassen. Danach wurde den Menschen die eigene Zukunft in starkem Maße aus der Hand genommen, um, wenn nicht von oben, so von woanders, bestimmt zu werden, worüber die Kunden von COOKSEY & SON kaum noch eine Kontrolle haben. Ich denke, dass als Zeugnis einer transitorischen Phase menschlichen Zusammenlebens die Bildersammlung von Kurt Benning kaum zu schlagen ist – wenn man sie denn aufmerksam und im Detail zu betrachten weiß.
Ian Jeffrey 2012 (Übersetzung Rüdiger Joppien)