Mitteilungen aus der Tiefe der Zeit

Mitteilungen aus der Tiefe der Zeit. Ein biographischer Bericht

Rüdiger Joppien, 2008

 

„Die Vergangenheit ist nicht tot. Sie ist nicht einmal vergangen“.
William Faulkner

Als ich Kurt Benning vor fast 40 Jahren, im Herbst 1969, kennen lernte, war er für mich primär ein Künstler. Heute sehe ich in ihm viel mehr: Er ist Kunst-, Literatur- und Filmrezensent, Gesellschaftskritiker, Fortschrittsskeptiker, Selbstdeuter, Familienforscher, Spurensucher, Sammler, Aufbewahrer, Briefeschreiber, Reisender, Flaneur und Beobachter, Anthropologe, Konzeptualist.

1969 lebte Benning in einem abbruchreifen Georgian Terrace House in der Theberton Street im Londoner Stadtteil Islington. Im Haus fehlte das Treppengeländer, einzelne Stufen waren ausgebrochen. Im Hof lagen alte Bauteile, Möbel, Schutt aller Art verstreut. Wer hatte hier einst gewohnt, warum war das Haus aufgegeben worden? Nachts war es dort unheimlich, wenn die Treppenstufen knackten. Immer mal brachen ungebetene Gäste ein, weil sie Dinge zum Abmontieren und Ausschlachten suchten. Zudem waren wir uns sicher, dass es im Haus spukte. Wir hatten ein Jahr zuvor „Blow Up“ gesehen, London war für uns ein mystischer Ort.

Ich hatte Benning in Verdacht, das Unheimliche geradezu magisch anzuziehen. Er suchte das Dunkle und Unerklärliche, Dinge, die einem den Boden unter den Füßen wegzogen. Leer stehende Häuser zogen ihn an, er photographierte sie im Dämmerlicht, denn er suchte nach ihrer „Seele“, nach dem, was ihr Leben einst ausgemacht hatte. Irgendwo stand noch ein alter Stuhl, hing eine halb herunter gerissene Tapete. Achtlos weggeworfene Relikte, eine alte Zeitung, ein vergilbtes Photo, ein kaputtes Spielzeug galten ihm als kostbare Trophäen. Damals berichtete er auch von einem stillgelegten Hotel in St. Moritz, in das er nächtens eingedrungen war und zeigte mir Photos von einer düsteren Großküche, mit langen Tischen und Schränken, Armaturen und Wannen. Für ihn waren dies wunderbare Schauplätze seiner Phantasie, die ihm erlaubten, sich ein früheres Leben vorzustellen: Menschen, die betriebsam durcheinander liefen, Befehle entgegen nahmen, während oben im Empfang elegant gekleidete Damen und Herren zusammenkamen. Ihm schien, als hörte er sie flüstern, als könne er sie sehen, während sie sich begrüßten, einander den Arm reichten, um lächelnd in den Ballsaal einzutreten. Sie waren eben doch noch da gewesen. Wohin waren sie entschwunden? Könnte man nicht wenigstens ihre Häuser erhalten, die ihren Lebensraum bestimmt hatten? Warum gab man sie dem Verfallen preis? Welcher Geist, welche Energie entschied über ihren Untergang?

Schon während seiner Studienzeit an der Münchner Akademie, Mitte der 60er Jahre, hatte Benning sich für den Erhalt von Jugendstilhäusern eingesetzt. Daraus war ein lokaler Konflikt entstanden, in den sich bald andere Ebenen einschalteten. Aber Benning war kein politischer Mensch, kein Agitator. Für ihn zählte die Ästhetik der Vergangenheit, um zu verstehen, in welcher Welt wir angekommen waren. Er suchte das zeitliche Kontinuum, den Blick ins Gestern. In London sahen wir eine Reihe von Filmen, die in der viktorianischen Epoche und in der Zeit zwischen den Kriegen spielten, in denen das bürgerliche Zeitalter noch einmal vor unseren Augen stand; die Engländer haben eine große Gabe, Geschichte zu rekonstruieren. Aber die reale Welt von gestern war entschwunden. Nach Jahrzehnten wirtschaftlicher Depression war in vielen Stadtteilen London nichts als Müll und Abraum übrig geblieben. Benning war fasziniert von den Prozessen der Auflösung und der damit einhergehenden Zersetzung der Form. melancholisch registrierte er den Verfall.

Nicht nur die Häuser waren heruntergekommen, auch die schäbigen Schaufenster in den kleinen Seitenstraßen zeigten nur noch den Abglanz vergangenen Lebens. Benning photographierte Geschäfte mit alten eingestaubten Perücken und Gebissen, Kneipen mit gelb gewordenen Plakaten an den Wänden und abgewetzten Plüschsesseln. Wir, die wir bereits zwischen Beton und Glas im modernen Nachkriegsdeutschland aufgewachsen waren, waren seltsam berührt von der Tristesse der Londoner Vororte. Vergangenheit und Verfall wurden Bennings beherrschende Themen, sie wurden für ihn der Schlüssel, die Welt zu verstehen, einzudringen in die Tiefe der Zeit. Ihm, dem gelernten Uhrmacher, wurde die Suche nach der vergangenen Zeit zur Obsession, die er in seinen Zeichnungen, Radierungen und Photographien zu bannen suchte.

Wer Benning auf der Straße begegnete, sah immer einen dunkel gekleideten, jungen Mann eilenden Schrittes, mit einer Pentax-Kamera über der Schulter und einem meist flachen, großen Karton bepackt, in dem er Radierungen und große Photoabzüge transportierte, die er gerade in einem Studio entwickelt hatte, wo er das Glück hatte, auf einen menschenfreundlichen Hausmeister zu treffen, der ihm die Schlüssel für das Labor anvertraute, damit er dort die Nacht hindurch arbeiten konnte. In seinem Gepäck waren neben eigenen Arbeiten stets auch einige alte Kladden, Hefte und Journale, er hatte immer etwas zum Zeigen dabei.

Im Jahr 1973 vermittelte Benning im Auftrag des Goethe-Instituts eine Ausstellung in die Londoner Poetry Society, die deutschen Kinderzeichnungen aus der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts gewidmet war: „A Child’s Eye on Germany“. Darunter waren Zeichnungen einer Tante, die als Kind während des 3. Reiches ihre Umgebung, das Elternhaus und den schulischen Alltag, in kleinen Szenen festgehalten hatte. Der Dichter Michael Hamburger, mit dem Benning befreundet war, steuerte eine Reihe deutscher Kinderbücher bei, aber auch literarische Werke in Erstausgaben, die er mit ins Exil gerettet hatte. Warum, so fragte ich mich, war Benning diese Ausstellung so wichtig, die ja keine Werke von ihm selbst enthielt, warum engagierte er sich für ein Kapitel deutscher Geschichte? Damals war es kaum möglich, eine Antwort zu geben, er verspürte nur die Magie dieser Bilder und sagte: Schau mal, das ist doch interessant…“

Anfang der 70er Jahre trafen wir uns einige Male in der National Gallery, um Bilder anzusehen. Wir planten ein Buch über Bilder, ohne kunsthistorischen Kommentar, einfach aus der Beobachtung heraus. Wir wollten beschreiben, was wir sahen und die dabei entwickelten Assoziationen festhalten. Ich wollte die Beschreibungen übernehmen, Benning die Interpretationen. Wie weit konnten wir es ohne Vorwissen bringen? Bei einem Stillleben von Courbet wollten wir wissen, welche Äpfel Courbet gemalt hatte. Benning erkannte sie als die Sorte, die er in der Kindheit kennen gelernt hatte, die man im Herbst auf Zeitungspapier auf die Schränke legte, damit sie sich den Winter über halten; es waren Winteräpfel. Was hatte den Künstler an der Darstellung interessiert, warum wählte er ein „niederes“ Sujet? War ihm wichtig gewesen, mit den Äpfeln ein Element von Zeit sichtbar zu machen?

Ein anderes Thema unserer Gespräche waren die Gesten und Bewegungen der in den Bildern dargestellten Figuren. Als ich vorschlug, einen Katalog der Gesten anzulegen und diese durch Jahrhunderte hindurch zu verfolgen, um durch sie in den Ausdruck der Personen und ihre Handlungen einzudringen, fand dieser Vorschlag Bennings lebhaftes Interesse. Daß sich viele Jahre später daraus sein Projekt »Zur Geschichte der menschlichen Bewegung« entwickeln würde, war zu dieser Zeit noch gar nicht absehbar. Wir haben die Bildbeschreibungen vor Ort allerdings nicht lange fortgesetzt, da unsere verschiedenen Aktivitäten uns daran hinderten, regelmäßig zusammenzukommen.

Wie eine Glasscheibe trennt uns das Gestern vom Heute, hinter der wir die Akteure der Geschichte zwar schemenhaft erkennen, doch nicht mehr „begreifen“; ihre Bedeutungen haben sich verflüchtigt. Benning wollte hinter oder in die Dinge schauen, in das Herz der Wahrheit zurückkehren, so mühsam dieser Weg auch sein mochte. Gleichzeitig wusste er, dass vorhandenes Wissen den Zugang zur objektiven Erfassung der gegenwärtigen Wirklichkeit versperrte. Diese Einsicht prägte seine Ansicht von Wahrnehmung. Wie konnte man sich in der Handhabung von Gegenständen oder in der Betrachtung einer Landschaft frei machen von den Kenntnissen und Vorurteilen, die unsere Erziehung in uns bereits angelegt hatten. Benning sagte, als Liebhaber der Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts, könne er gewisse Landschaften nur mit den Augen eines Dillis, Rottmann oder Böcklin sehen. Wie könnte unser Denken und Fühlen wieder frei werden, kühl, distanziert und präzise? Diese Fragen führten Benning zur schriftlichen Fixierung aller Eindrücke, derer er sich ausgesetzt sah, und schließlich zu einem umfassenden Archiv.

In seiner ersten Ausstellung in der Galerie Herzer in München im September 1977 präsentierte Benning neue Arbeiten, Zeichnungen wie er sie bisher gemacht hatte, aber auch neue Objekte und Gemälde, sowie Arbeiten in Xeroxkopierverfahren. Manche Besucher bedauerten, den „alten“ Benning nicht mehr wiederzufinden und fürchteten, es würde bald keine Zeichnungen mehr von ihm geben. „Andere“, so schrieb Benning damals, „sehen ein konsequentes Vorgehen gerade darin, wie ‚Sinnenreiches‘ (so nannte es jemand) in kühlen Beschreibungen von Realität aufgeht, ohne daß damit die Faszination des Sinnlichen zerstört würde.“

Die „kühle Beschreibung von Realität“ war in der Tat der bestimmende Wesenszug in Bennings Kunst. Ein Satz Peter Handkes, den dieser 1976 in einem Radiointerview vorgetragen hatte, war ihm in Erinnerung geblieben: „One can continue to hate, and one can continue to watch“. Benning lag es fern zu moralisieren, er wollte jegliche Form von Emotion aus seinen Werken heraushalten. Seine Tätigkeit war die permanente Beobachtung von Menschen, Gegenständen, Städten und Landschaften. Lange Reisen und Aufenthalte an fremden Orten wurden ihm ebenso unentbehrlich wie die tägliche Lektüre von Zeitungen, die er auf besondere Photos hin absuchte und als Botschaften unserer Zeit zusammentrug. Seine Ausbeute hinterlegte er in seinem Archiv, das bald zu einem gigantischen Fundus an Zeitgeschichte anwuchs. Aus diesem schöpfte er seine Ideen für neue künstlerische Aktionen, die nun nicht mehr primär das Ziel hatten, Gesehenes zu neuen Bildern zu verarbeiten, sondern konzeptuelle Wahrnehmungsstrategien zu entwickeln. Wie ein Geodät die Landschaft vermaß, wollte Benning in immer neuen punktuellen Aktionen die Welt beschreiben und zugleich Erkenntnisse zutage fördern, die quer zum herrschenden Zeitgeist lagen. Als Maßstab diente ihm die Welt von gestern, deren Auswirkungen immer noch in unsere Zeit hineinragten. In ihr fand er für sich Wahrheiten und Geheimnisse, die unser technologisches, auf Effizienz bedachtes Weltbild längst unter sich begraben hatte.

1984 beendete Benning ein langwieriges Projekt, das er 1979 begonnen hatte: die Sichtung und schriftliche Erfassung sämtlicher Gegenstände der Wohnung seines Großvaters väterlicherseits, die zur Auflösung anstand. Benning nannte die Bestandsaufnahme „Hinterlassenschaft. Ein deutsches Erbe“. Im Vorwort des schriftlich niedergelegten Berichts heißt es: „Meine Absicht bestand darin, auf Erklärungen, Deutungen oder Hinweise mir bekannter Zusammenhänge zu verzichten. Stattdessen sollten sich die Gegenstände, vermittels minutiöser Beschreibung selbst erklären. Außerdem schien es mir angebracht, wertorientierte Katalogisierungen … wegzulassen, um eine vom Gebrauchswert unabhängige Gleichwertigkeit aller Dinge zu betonen. Darüber hinaus erschließt sich einem durch die bloße Nennung aller Gegenstände der Stil einer Zeit, die Lebensgewohnheiten, die materiellen und geistigen Maßstäbe der Vertreter einer bestimmten Generation und sozialen Schicht.“

Mit diesem Projekt begann Bennings Spurensuche in der eigenen Familie. Hatte er noch vor wenigen Jahren mittels Photographie den physischen Verfall der Welt zu beschreiben und zu bannen versucht, so war er jetzt dazu übergegangen, bewußt buchhalterisch, ohne spürbare Anteilnahme, einen Hausstand Raum für Raum, Schrank für Schrank, Schublade um Schublade sprachlich zu dokumentieren. Die peinlich genaue Auflistung angehäufter Alltagsgegenstände war für ihn ein unausgesprochener Kommentar zum Werteverfall unserer Zeit. Nur durch ein mehrjähriges, am eigenen Körper vollzogenes, quälend langes Exerzitium konnte dieses Projekt verwirklicht werden. Das Werk weckt Erinnerungen an die Zeit des 3. Reichs, als mit der gleichen Emotionslosigkeit konfiszierter jüdischer Besitz in langen Listen erfaßt wurde. Darf der Titel „Ein deutsches Erbe“ auch in diesem Sinne gedeutet werden?

 

Bennings Existenz ist mit der jüngeren deutschen Geschichte unmittelbar verbunden, schuldet und verdankt er ihr doch sein Leben und hat er ihre Auswirkungen lange gespürt. Schließlich hatte der 2. Weltkrieg ihm den Vater genommen. Dieser hatte als Soldat die letzten Kriegsjahre auf dem Balkan, zumal in Belgrad, verbracht und war dort bei der Eisenbahnverwaltung stationiert gewesen. Einen Monat vor Kriegsende war er »gefallen«, ohne seinen kurz zuvor geborenen Sohn gesehen zu haben. Kurt wuchs bei der Mutter auf, die nicht wieder heiratete. Um für den Lebensunterhalt arbeiten gehen zu können, brachte sie ihren Sohn in einem Internat unter. Benning hat später von dieser Zeit erzählt, daß er dort unglücklich war, besonders weil er gern sammelte und Objekte, Briefe und Notizzettel in seinem Spint verwahrte, die bei Razzien des Aufsichtspersonal ausgehoben und mitleidslos vernichtet wurden. Die Trauer über den Verlust seiner Geheimnisse durch autoritäre Ignoranz haben sich dem Jungen tief eingeprägt, und so fing er an, Kästchen mit doppeltem Boden zu basteln, falsche Wände einzuziehen, alle Geheimnisse für sich zu behalten. Er wurde ein verschwiegener Junge, der sich vor Bürokratie und Unrecht fürchtete und lieber ein Wort zu wenig als zu viel sagte. Bennings Lust am Beobachten und seine zurückhaltende Natur mögen in jenen Jahren ihre erste Prägung erfahren haben. Die Geschichte seiner Familie hat Benning seit der „Hinterlassenschaft“ weiter beschäftigt. Er selbst hat mehrere Reisen nach Belgrad unternommen und dort eine Zeit lang gewohnt. Im November 1989 hat er die »Belgrader Zeichnungen« geschaffen, in einem sozialistischen Wohnblock in Belgrad. Es ging ihm um die Erprobung einer von ihm erfundenen Zeichentechnik, und mit ihr um den Versuch, den Ursprung von Wesenheiten, den Vorgang des Werdens selbst zu zeichnen. Mit der Mutter ist er dann 1990 den Spuren des Vaters gefolgt, die für ihn offene Frage nach der möglichen Verstrickung des Vaters in Schuld hat ihn nicht los gelassen.

Die Landschaften des alten Europa sind in Bennings Denken und künstlerischem Werk magisch präsent. Sie zu bereisen, diente der Erkundung des eigenen Ursprungs. In den Photographien, die Benning von ihnen machte, sind Menschen meistenteils abwesend. 1988 entstand eine stille Photosequenz des jüdischen Friedhofs in Prag, auf der die Grabsteine wie stumme Zeugen, gealtert, windschief und doch erhaben, den Unbilden der Geschichte zu trotzen scheinen. Einige Jahre später, im November 1990, unternahm Benning eine weitere Feldforschung in seiner oberpfälzischen Heimat: er photographierte das Dorf Waldau, das seit Jahrhunderten bestanden hatte, nun aber im Zuge struktureller Veränderungen zwischen Stadt und Land in seinem weiteren Bestand bedroht war. Benning hatte dort als Kind gespielt, jeden Winkel gekannt. In seinen Photos liegt das halb verwaiste Dorf in trübem Winterlicht, halb verschneit, verschlossen. In einem Kommentar schreibt Benning: „In der frühen Nachkriegszeit, bis in die 60er Jahre hinein, war das Mittelalter auf dem Lande noch nicht völlig zerstört. Ich wuchs noch in die Sitten und Gebräuche einer alten Welt hinein, kaum ahnend, daß vor wenigen Jahren erst eine große Katastrophe zu Ende gegangen war.“ Das einst Vertraute war inzwischen fremd geworden, und Benning machte es zu seinem Anliegen, es mittels der Photographie zurückzuholen, um es vor dem gänzlichen Vergessen zu bewahren. Sechzehn Jahre später, im Frühjahr 2006, publizierte er die 32 Photos des Dorfes in einem kleinen Band unter dem Titel »Deutsches Dorf im Winter«.

Im Jahr 2001 zog Benning mit seiner Frau und seiner kleinen Tochter Noa in ein Dorf nach Niederbayern, „wo es viele Einödhöfe gibt und die Ortsnamen häufig auf -öd enden. So habe ich sämtliche Meßtischblätter auf der Suche nach Öd-Orten durchforstet und habe in ganz Niederbayern mehr als 600 Öd-Siedlungen gefunden.“ Während Benning mit der Tochter im Kinderwagen im Radius von einem Kilometer die Gegend durchstreifte, photographierte er erstmals in Farbe, mit einer Pocket – Kamera, die Landschaft, „aus dem Kinderwagen heraus“, wie er sagt, quasi mit den Augen seiner Tochter, „die umliegenden Fluren, Wiesen, Felder und Wälder. Auf diesen oft zweistündigen Spaziergängen konnte ich über das Wesen der gebändigten/kultivierten Landschaft nachdenken, und über Landschaftsphotographie überhaupt“. Benning traf aus den gemachten Photos eine Auswahl von 365 Stück, in allen Variationen des Wetters, der Jahreszeiten und des Lichts. Er betrachtet diesen Zyklus als ein Vermächtnis an seine Tochter, für spätere Zeiten, damit sie dereinst selbst erkennen kann, in welcher Landschaft sie ihre Kindheit verbrachte. Nach diesem Projekt beschloß Benning sein photographisches Werk.

Benning hatte schon Jahre zuvor seine künstlerische Produktion verringert, sich von Zeichnungen und Graphik verabschiedet, die Malerei aufgegeben und sich mit den „Videoporträts“ einem neuen Projekt gewidmet; er hatte es mit dem Freund Hermann Kleinknecht ins Leben gerufen. Ursprünglich war daran gedacht gewesen, nur Repräsentanten der Münchener Kunstszene seit den 60er Jahren vor die Kamera zu holen und sie zu bitten, in einem einstündigen Monolog ihre Erinnerungen vorzutragen. Doch bald weitete sich das Projekt aus, 2002 konnten bereits 40 Zeitgenossen zu Worte kommen. „Menschen aus München und Umgebung erzählten aus ihrem Leben. Vom Taxifahrer bis zum Kulturbeauftragten, vom Journalisten bis zum Psychoanalytiker, vom Kellner bis zum Künstler reichte das Spektrum der Personen.“ Wie einst der Kölner Photograph August Sander für sein Projekt „Antlitz der Zeit“ Menschen aller Stände photographiert hatte, so treten in den Videoporträts Menschen verschiedenster Berufe zu einer „Art Geistergespräch um die Jahrhundertwende“ auf. Alle Interviewpartner waren den Autoren in irgendeiner Weise bekannt, persönlich oder durch Korrespondenz, wie der von Benning hoch geschätzte Schriftsteller Walter Kempowski. Bislang gibt es mehr als 150 Videoporträts, d.h. 150 Stunden erzählten Lebens und Zeitgeschichte. Doch Benning hat dem Projekt kein Limit gesetzt, es wird weiter wachsen.

Begonnen hatten Bennings zeitgeschichtliche Erkundungen gegen das Vergessen 1968, ein Jahr vor seiner Ankunft in England, mit einem Besuch auf der oberpfälzischen Burg Treswitz. Hier lebte in weitgehender Abgeschiedenheit von der Außenwelt eine Mutter mit ihrem Sohn. Das Leben der Beiden und ihre Lebensumstände hat Benning per Photo, Film und Tonaufnahmen geradezu exzessiv dokumentiert. Die Familie stammte aus Berlin und hatte nach dem Krieg in der Oberpfalz Zuflucht gefunden. Der Vater war Journalist gewesen aber nach dem Krieg verstorben. Der Sohn war ein Liebhaber der Fliegerei und hatte vorgehabt, selbst einmal ein Flugzeug zu steuern, war aber als fluguntauglich eingestuft worden. Seither betrieb dieser das Hobby der theoretischen Fliegerei, korrespondierte, bezog Zeitschriften aus aller Welt und beobachtete Flugkörper am Himmel, die er für Ufos hielt. Währenddessen schrieb seine Mutter, aus preußischem Adel stammend, Märchen für den Bayerischen Rundfunk und bastelte aus Stofffetzen Puppen. So lebten Mutter und Sohn schon lange in Symbiose, ihren eigenen Träumen nachgehend. Beide führten mitten im Wirtschaftswunderland Deutschland eine zurückgezogene Existenz, bis sie eines Tages, fast unbemerkt von den Bewohnern des Dorfes, von der Bildfläche verschwanden und nacheinander starben.

Als Benning 1982 erneut die Burg besuchte, waren die beiden bereits tot, einzelne Möbel standen noch herum, die Fenster waren inzwischen blind geworden, weggeworfene Gegenstände, verrottete Kleidungsstücke, Gegenstände des alltäglichen Gebrauchs, ein Rasierspiegel, ein Strohhut zeugten von früherem Leben. Im Schutt entdeckte Benning neben dem Testament des Vaters, Akten und Schriftstücken aller Art, ein Flugzeugmodell und eine Ausgabe der Sprüche des Angelus Silesius, des schlesischen Mystikers des 17. Jahrhunderts, in einer Ausgabe von Lothar Schreyer von 1924, verlegt im Verlag „Der Sturm“. Es wird berichtet, die Mutter sei mit Lothar Schreyer in Berlin befreundet gewesen.

Benning hat die Verlassenheit der Burg und die Heimatlosigkeit der beiden Bewohner stark berührt. Davon zeugt eine erste frühe Radierung unter dem Titel „Burgtreswitzmensch“ (1970). Nach einem schriftlichen Bericht der ersten Begegnung, den er 1980, also 12 Jahre nach dem Ereignis, verfaßte, schrieb Benning 1984 den zweiten Teil, der den Tod der beiden Burgbewohner mitteilt und ihre von der Außenwelt kaum beachtete Hinterlassenschaft registriert. Benning hat zu verschiedenen Momenten diese Berichte und einzelne Aufnahmen publiziert, doch jedes Mal waren es nur Fragmente gewesen. Er arbeitete an einem Roman über den Burgtreswitzmenschen und plante seit Jahren einen Film. Kein Thema seines Künstlerlebens hat er so ausdauernd behandelt und in Ausschnitten vorgestellt, 40 Jahre lang hat es ihn begleitet. Der Burgtreswitzmensch wurde für ihn zu einer existentiellen Erfahrung; dieser lebte außerhalb der aktiven Welt in einer „Zeitinsel“, mit sich und seinen Studien allein, umgeben von einem großen Archiv, aus dem heraus er wohl noch große Publikationen plante, bis Hoffnungslosigkeit und Resignation ihn niederrangen. Der Krieg, die Geschichte, hatten ihn und seine Mutter unverschuldet in die Einsamkeit des Zonenrandgebiets, nur wenige Kilometer von der tschechischen Grenze entfernt, verschlagen, wo er, der einstige Großstädter, sich versagte, einer neuen weltgeschichtlichen (Un-)Ordnung beizutreten und stattdessen den Weg in die Immigration wählte. Benning hat, wohl aus Furcht vor zu großer Nähe und Identifikation mit dem Burgtreswitzmenschen, die endgültige Fassung des Berichts lange hinausgezögert; in dieser Ausstellung erscheint sie nun als Buch. Damit, so könnte man versucht sein zu sagen, rundet sich sein Werk; die Angst vor dem eigenen Scheitern ist gebannt.
Daß Benning sehr langsam und allmählich Teile seines Archivs preisgibt, entspricht seiner Methode, die Dinge reifen zu lassen. Nicht umsonst dauerte die Geschichte der Publikation des Dorfes Waldau in der Oberpfalz 16 lange Jahre, was freilich auch daran lag, einen Verleger zu finden.

1997 zeigte Benning im Italienischen Kulturinstitut in Hamburg Photos aus Italien, darunter seine mittlerweile berühmte Serie der Köpfe aus der Kapuzinergruft in Palermo, die er bereits 1982 photographiert hatte. Zeitverzögerungen dieser Art sind für ihn normal. Damit unterscheidet er sich bewusst von der Praxis des zeitgenössischen Kunstbetriebs, der nach dem jeweils Neuesten Ausschau hält und damit das Wettrennen der Sammler um die aktuellsten Werke entfacht. Benning hingegen retardiert die Zeit, er will über die Jahre lernen, ob sein Ansatz Gültigkeit hat; er will das eigene Tun verstehen. Aus diesem Grunde bleibt ein Kunstwerk von ihm über lange Zeit hin offen, bis sich schließlich ein Gedanke oder Blick auftut, der das Werk im richtigen Moment zum Abschluß kommen läßt. Daraus resultiert eine Parallelität der Projekte und mit dieser eine Unterschiedlichkeit der Methoden, die die Beschreibung und Analyse seines Werks erschwert. Wir wissen nicht, welchen Zyklus Benning als nächsten freigibt, von den vielen, die er noch in den Kästen und Schränken seines Archivs verwahrt. Er sieht sich heute weniger denn je als Kunstproduzent, sondern vielmehr als einer, der empfängt und über das Empfangene nachdenkt, Eindrücke sammelt, dokumentiert, archiviert. Kunst, so möchte man vermuten, ist für ihn nachgeordnet und nur in so weit wichtig, als sie ihm die Möglichkeit gibt, seinen Standpunkt sichtbar und hörbar zu machen.

Der Wunsch, weitere Orte Europas kennen zu lernen, ist in Benning nach wie vor mächtig, aber er selbst gesteht sich ein, daß es nur noch wenige sind, die zu erreichen ihm möglich sein werden. Die Reisen werden einmal abbrechen, wie auch viele Projekte unvollendet liegen bleiben werden. Aber was heißt das schon? Ist nicht das Fragment die ihm eigene Kunstform, die Annäherung an einen Gegenstand durch eine Frage der ihm gemäße Weg? Die Zeit läßt sich schließlich nicht vollenden.

Benning ist das Risiko eingegangen, mit dem Unvollendeten, dem Fragmentarischen, dem Ephemeren zu leben. Er hat es so gewollt und zu seiner Aussage gemacht. Wer ihn kennt, weiß um die gelegentliche Depression, die dieses Vorgehen in ihm verursacht. Es ist sein Kampf mit dem Engel, aber es ist auch seine Entscheidung, die ihn ein freier Mensch sein läßt.