Formen der Wahrnehmung

Formen der Wahrnehmung
„Stadien des Zerfalls“ – ein Werkkomplex von Kurt Benning

Gottfried Knapp, 2016

 

Der folgende Text dürfte nur schwer in andere Sprachen zu übersetzen sein, da das deutsche Wort „wahrnehmen“, das zur Definition und Differenzierung des zu behandelnden künstlerischen Werkkomplexes herangezogen werden soll, in seiner altertümlichen Mehrschichtigkeit und Bedeutungstiefe in anderen Sprachen nicht gleichwertig wiedergegeben werden kann. Allenfalls mit Zusatzerklärungen würde man dem Kern der Aussage nahekommen.

Anlässlich seiner großen Retrospektiv-Ausstellung in der Münchner Rathaushalle im Jahr 2008 hat Kurt Benning zwei an getrennten Orten lange vorher schon in sich abgeschlossene Werkkomplexe, die gut auch für sich hätten bestehen können, thematisch miteinander verknüpft und unter dem Titel „Stadien des Zerfalls“ konzeptuell so miteinander verzahnt, dass bei der gemeinsamen Veröffentlichung in diesem Buch nicht nur die internen und lokalen Bedeutungen der beiden unabhängig voneinander getätigten Aktionen in schöner Klarheit herausgestellt wurden, sondern sich über den Befunden der beiden ästhetisch-kritischen Bestandsaufnahmen eine zusätzliche Bedeutungsebene auftat, die von den jeweiligen Örtlichkeiten und den Methoden der Darstellung unabhängig war.

Dass man als Autor, der nach erklärenden Worten für bestimmte Bildwerke sucht, beim Betrachten der in diesem Buch versammelten Dokumente auf das vom Verschwinden bedrohte Wort „wahrnehmen“ verfällt, wird Kenner der Benningschen Arbeitsmethode nicht wundern. Kein Künstler seiner Generation und schon gar keiner der nachgewachsenen Generationen beschäftigt sich ähnlich analytisch kritisch mit Phänomenen und Dokumenten der Alltagsrealität. Benning gibt sich beim Betrachten der ihn umgebenden Dinge nicht, wie viele seiner Kollegen, mit dem bloßen Registrieren oder bildnerischen Nachvollziehen der ästhetischen Erscheinungen zufrieden. Hat er etwas in Wort oder Bild Berichtenswertes in seiner Umgebung entdeckt, dann wird das Anschauen bei ihm zur Wahr-Nehmung, zur intellektuellen Kenntnisnahme, zum emotionalen Impuls, ja fast zur Verpflichtung, mit den Mitteln der Kunst seine Tiefe und seine Wahrheit zu erkunden und kritisch reflektierend darauf zu reagieren.

Im Jahr 1968, dem Jahr der fundamentalen Studentenproteste, hat Kurt Benning, damals Malerei-Student an der Münchner Akademie der bildenden Künste und kunstinteressierter Gasthörer an der benachbarten Münchner Universität, eine Aktion von verblüffender Nachhaltigkeit in der Öffentlichkeit in Gang gebracht. Seine damalige Initiative hatte so gar nichts mit den schnittigen politischen Parolen zu tun, mit denen die Studenten damals lärmend durch die Straßen zogen und an den Hochschulen den Lehrbetrieb lahmlegten. Ja Bennings Anregung war, ihrer anfänglichen Stoßrichtung und späteren Wirkung gemäß, sogar fast etwas wie eine Gegenbewegung zum gestischen und verbalen Aktionismus jener Protestjahre, der, wie man weiß, gesellschaftlich weitgehend folgenlos geblieben ist.
Benning konnte sich mit einigen der Zukunfts-Vorstellungen der Studentenbewegung durchaus identifizieren, doch Handlungsbedarf sah er eher dort, wo die Gegenwart schroff mit der Vergangenheit kollidierte. Bei seinen Spazier- und Erkundungsgängen durch Schwabing und durch die Maxvorstadt hat er in den Straßen immer wieder schrille ästhetische Gegensätze aufgespürt, die offenbar niemanden zu stören schienen, die er selber aber wie Skandale empfand. In geschlossene alte Häuserzeilen mit reich verzierten historistischen Fassaden waren Neubauten von so abstoßender Primitivität und schockierender Hässlichkeit hineingezwängt, dass man als visuell halbwegs sensibler Passant eigentlich nur aufschreien und die Bewohner dieser ohne jeden ästhetischen Anspruch errichteten Spekulationsobjekte bedauern konnte.

Benning hat einige der schaurigsten Münchner Stilkarambolagen in Fotos dokumentarisch festgehalten. Beunruhigend war für ihn aber die Feststellung, dass damals, 24 Jahre nach Kriegsende, immer noch Altbauten von hoher ästhetischer Qualität – darunter auch Jugendstil-Monumente von kunsthistorischem Rang, denen bis dato der Denkmal- oder Ensembleschutz vorenthalten worden war – abgerissen oder bei fälligen Sanierungsmaßnahmen bis zur Unkenntlichkeit verstümmelt wurden.

Bei der Suche nach Verbündeten, die den Missstand publik machen konnten, wandte sich Benning an Peter Steiner, den damaligen Fachschaftssprecher der Kunsthistoriker an der Universität, mit dem er befreundet war. Steiner ließ sich, obwohl die offizielle Kunstgeschichtsschreibung und auch der Denkmalschutz den Historismus und den Jugendstil damals noch für stilistische Entgleisungen hielten, von der Qualität der bedrohten Wohnhausfassaden überzeugen und brachte nun seinerseits innerhalb der Fachschaftskollegen eine kleine Protestbewegung zustande, die ihren Gipfel fand und dann auch über die akademischen Kreise hinaus in die städtische Öffentlichkeit weiterwirkte, als der ranghöchste Kunsthistoriker der Universität, der Ordinarius für Kunstgeschichte Wolfgang Braunfels, die Bewahrung der Münchner Historismus- und Jugendstilfassaden zu einem Anliegen des Lehrstuhls und damit der Universität machte.

Auf diese Neubewertung musste schließlich auch die Stadt München, die dem Abbruchtreiben bis dahin emotionslos zugesehen hatte, reagieren. Doch da sich die Politiker, wie üblich, keine Blöße geben wollten, nahmen sie die Anregung von außen auf und gaben sie als ihre eigene Entdeckung an die Öffentlichkeit weiter. So wurden die Schmuckfassaden des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, die bis dahin eher als lästige Hindernisse beim Umbau der Stadt empfunden worden waren, quasi über Nacht zu schützenswerten Objekten, ja zu konstituierenden Elementen im Münchner Stadtbild erklärt. Schließlich hatte sich auch Thomas Mann in jener 1902 erschienenen München-Novelle „Gladius Dei“, die von der Stadt so gern zitiert und in Anspruch genommen wurde, wort- und bildreich über die schmuckfreudigen Münchner Fassaden geäußert. Sein Hymnus auf die an den Hausfassaden erlebbare Kunst- und Sinnenfreude der Stadt gipfelte in dem Satz: „Ein treuherziger Kultus der Linie, des Schmuckes, der Form, der Sinne, der Schönheit obwaltet … München leuchtete.“

Man konnte es also durchaus als ein Bekenntnis zu wiederentdeckten eigenen Werten interpretieren, als die Stadt schließlich den Münchner Fassadenpreis ausschrieb, mit dem von da an jährlich liebevoll restaurierte historische Fassaden ausgezeichnet wurden. Dank fremder Vorarbeit ist es der Stadt also gelungen, die lähmende lokale Apathie in Sachen Altbaufassaden in eine allgemeine Begeisterung umzumünzen. Ja es kam eine Art Wettstreit in Sachen Schönheit in Gang, dessen Ergebnisse das Bild Münchens bis heute prägen.

Die Stadt hat sich mit dieser Maßnahme also selbst den größten Dienst erwiesen. Wie nachhaltig die Wirkung der Aktion aber auch bei den anfangs ebenfalls zögerlichen Kunsthistorikern war, lässt sich an der Tatsache ermessen, dass einer der größten der Zunft, Professor Willibald Sauerländer, damals Direktor des Zentralinstituts für Kunstgeschichte in München, als die Stadt die Ergebnisse des Fassadenwettbewerbs in einem Bildband veröffentlichte, die dokumentarische Unternehmung mit einem Vorwort adelte.

In einer Zeit, in der politische Ideen und soziale Ideologien das öffentliche Denken so total beherrschten, dass reale Missstände gern übersehen wurden, jedenfalls nicht bis ins öffentliche Bewusstsein vordringen konnten, hat Kurt Benning durch dezidiertes Wahrnehmen, also durch reflektierendes Betrachten und engagiertes Reagieren auf allgemein sichtbare Phänomene, in München den Anstoß zu einem allmählichen Prozess des Umdenkens gegeben. Die von ihm ausgelöste Aktion „Münchner Jugendstilfassaden“ hat nicht, wie die meisten Studentenaktionen jener Jahres, Bestehendes und Überkommenes niederreißen wollen; sie hat in einer gezielten Gegenbewegung Werte ins Bewusstsein gebracht und so der Stadt die Möglichkeit eröffnet, etwas von ihrer Identität zu bewahren.

Im Oktober 1969 ist Kurt Benning dank eines DAAD-Stipendiums von München nach London umgezogen. Er kam also aus einer Stadt des Aufbruchs in eine Stadt des Umbruchs, aus einem Zentrum der deutschen Studentenbewegung in das Zentrum der sich entwickelnden internationalen Pop-Kultur. In seinem Erinnerungs-Text über diese Zeit hat er die eigentümlich gemischte Atmosphäre, die er dort erlebt hat, lebendig geschildert. Wie auch zuvor in München waren es weniger die in der Öffentlichkeit heiß diskutierten sozialen und politischen Probleme als die krassen Veränderungen im optischen Erscheinungsbild der Stadt, die ihm ins Auge sprangen, die eine Reaktion von ihm verlangten und ihn zum Wahrnehmen, zum Festhalten aufforderten.

Bei seinen Erkundigungsmärschen durch die Stadt und ihre ganz unterschiedlichen Vorstädte stieß er immer wieder auf unbegreiflich ausgedehnte Brachen und auf Wohnquartiere, die, von ihren Bewohnern verlassen, in katastrophalem Zustand waren und offensichtlich abgerissen werden sollten. Es waren fast immer Reihenhaussiedlungen, wie sie in den Jahrzehnten der Industrialisierung als Arbeiter-Wohnungen vielerorts in Massen hochgezogen worden sind. Benning konnte bald nach seiner Ankunft selber in ein solches nach Einheitsschema errichtetes Reihenhaus einziehen und dessen wohnliche Qualitäten kennen lernen. Doch sein Haus mit kleinem Gärtchen lag in einer vergleichsweise zentrumsnahen Vorstadt, die bald nach seinem Wegzug eine Gentrifizierungsphase erlebte und darum vom Flächenabriss verschont blieb. Die Reihenhäuser dort sind heute allesamt luxussaniert; das Wohngebiet erfreut sich größter Beliebtheit bei Geldanlegern und Karrieristen.

 

Kennt man diese Geschichte, wird man Bennings Fotografien von jenen ganz ähnlich strukturierten Quartieren, die in den sechziger Jahren dem Verfall preisgegeben oder abgerissen worden waren, mit der gleichen Betroffenheit betrachten, mit der sie in den frühen Siebzigern aufgenommen worden sind. Auch diese Siedlungen hätten mit einigem Aufwand saniert und zu attrak- tiven Wohnvierteln wiederbelebt werden können, doch die Stadt hat sie dem vermeintlichen Fortschritt und den Interessen der Investoren geopfert.

In London scheint man damals die gewaltigen Umstrukturierungen in den Vorstädten und den Flächenabriss ganzer Stadtteile als notwendiges Übel auf breiter Basis akzeptiert zu haben. Um von den ausgelöschten Stadt- teilen, von den zugenagelten oder abgeräumten Wohnquartieren betroffen zu sein, musste man wohl in einem Land aufgewachsen sein, dessen Städte im Bombenkrieg bis zur Unkenntlichkeit entstellt und danach in stark ver- kümmerter Form wieder geflickt worden waren.

In England sehen die von Benning registrierten „Stadien des Zerfalls“ also ungefähr so aus: Die breiten Straßen sind gespenstisch leer. Herausgeris- sene Pflastersteine liegen als Hindernisse herum. Auf den Gehsteigen wuchert Gras. Die Gaslaternen sind zersplittert; die Elektrizitäts-Masten ragen wie Mahnmale in den grauen Himmel, ihr Kleinerwerden bis zum Hori- zont lässt erkennen, wie riesig die Abbruchflächen sind, auf denen weder Busch noch Baum eine Chance haben.

Eine Kirche mit Turm, die früher einmal dicht umbaut gewesen sein dürfte, steht jetzt vereinsamt in der Leere herum. Man wagt sie offenbar nicht abzureißen. Menschen sind nirgends zu sehen. Doch. Ganz hinten überqueren zwei Kinder den Ort, wo sich früher zwei Straßen gekreuzt haben. Und dann plötzlich dieses eine Auto: am Ende einer abgerissenen Häuserzeile ragt wie ein übriggebliebener Zahn ein Haus in den Himmel; vor ihm steht ein Pkw. Wohnt hier vielleicht noch ein Mensch? Oder ist die Karre einfach vergessen worden?

Wo die Häuser noch nicht abgerissen sind, wo die vielen Kamine noch auf den einheitlich hohen Dachfirsten aufsitzen, wurden Betonmauern oder Wellblechwände, die selbst zum Beschmieren zu hässlich sind, um die Blöcke herum hochgezogen. Ja ganze Quartiere sehen so aus, als seien sie hinter Schloss und Riegel geraten.

Anderswo fehlen diese Gefängnismauern. Dort geben die langen Reihen der immer gleichen Häuser noch eine Ahnung davon, wie anständig einst in ihnen gelebt worden ist. Doch hier, wo keine Sperrmauern stehen, sind sämtliche Fensterscheiben eingeworfen. Abbruchmüll liegt vor den Eingangstreppen und auf dem Gehsteig. Und doch scheinen einzelne Personen immer noch hier zu hausen. Eine dunkelhäutige Frau, die eine Tasche trägt, muss mit ihrer Last um einen herumliegenden riesigen Autoreifen herumkurven.

Benning führt uns auch ins Innere einzelner ruinöser Häuser. Dort sieht es so aus, als seien die Räume überstürzt verlassen worden. Unter zersplit- terten Fensterscheiben liegen Flaschen, Krüge und Scherben auf verdreckten Teppichteilen herum. In einem Haus mit eingebrochenem Dach hängt eine spitzenverzierte Gardine noch immer so vor einem leeren Fensterrahmen herum, als müsse sie das Tageslicht abhalten.

Mit welcher Konsequenz in den Abrisszonen die Spuren früheren Lebens ge- tilgt worden sind, lassen die Fotografien von einem verwahrlosten Friedhof erahnen. Wo bis vor ein paar Jahren die Gräber lagen, wuchert jetzt un- durchdringlich dichter Buschwald. Die baulichen Überreste sind zusammen- gefallen. Offene Gruben klaffen zum Himmel. Die Stätten früheren Lebens warten also darauf, vom Menschen wieder in Besitz genommen und umgebaut zu werden.

Welchen Reiz die aufgegebenen Stadtquartiere zumindest partienweise einmal gehabt haben, lässt ein stehengebliebenes stattliches Eckhaus mit Flachdach erahnen. Es ist verputzt, unterscheidet sich stilistisch also deutlich von den Reihenhäusern aus Backstein. Seine beiden Stockwerke sind im klassischen Stil repräsentativ mit Pilastern gegliedert und mit hohen breiten Fenstern zu den Straßen hin geöffnet. Das Ganze könnte früher einmal ein Pub gewesen sein. Über der abgeschrägten Ecke und dem darü- bergesetzten Giebel ragt sogar noch eine Fahne in die Höhe. Das Haus scheint also zumindest zeitweilig noch besucht zu werden, was auch die drei vor ihm abgestellten Autos vermuten lassen. Ob auf den in den Fen- stern hängenden Zetteln „Zu verkaufen“ steht, kann man nicht erkennen. Offenbar soll das markante Relikt aus der Vergangenheit den Kunden, die sich in dem geplanten neuen Stadtteil ansiedeln sollen, ein Stück glücklicher Vergangenheit vorgaukeln.

Kurt Benning betätigt sich also auch in „Stadien des Zerfalls“ als ref- lektierender Beobachter und Spurensicherer. Er entdeckt Motive, die ihn anrühren, die ihn nicht gleichgültig lassen. Er erspürt Zustände, die mit der Alltagsnormalität nicht mehr vereinbar sind. Und er hebt Dinge ans Licht, die etwas von geschehenen Entwicklungen verraten und darum für spätere Zeiten festhalten werden müssen.

Wann und in welcher Weise die zusammengetragenen Dokumente ausgewertet werden, steht beim Abschluss der Aktion meist noch nicht fest. In einigen Fällen hat Benning die am Ort des Geschehens gemachten Fotografien und Filme, die mitgenommenen Beweisstücke und die beschreibenden Texte direkt nach dem Einsammeln zum Werkkomplex gebündelt und mit einem Titel ver- sehen. In unserem Fall hat er zwei motivisch entfernt vergleichbare, aber an ganz verschiedenen Orten zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommende Fotoaktionen Jahre später konzeptionell zusammengebunden. Durch diese Bündelung konnte er nicht nur den Blick auf die möglichen Ähnlichkeiten und Unterschiede schärfen, sondern seinen Zufallsentdeckungen auch eine Brisanz bescheren, ja eine Nachhaltigkeit verleihen, die über die fixierte historische Aktualität weit hinausreicht.

In München hat Benning mit seinen kritisch distanzierten Wahrnehmungen bedrohter historischer Fassaden überraschend viel bewegen können. Er hat die Bewohner der Stadt auf etwas hingewiesen, was ganz und gar ihren Interessen entsprach, ihnen bis dahin aber entgangen war. Heute, fast 50 Jahre nach dem Denkanstoß, strahlen die Jugendstilfassaden, die damals akut gefährdet waren, dann aber als Kultobjekte entdeckt und üppig restauriert wurden, noch immer so, als seien sie stets heiß geliebt worden.

An dem Londoner Vorstadt-Zyklus lässt sich eine ganz andere mögliche Wirkung spurensichernder Maßnahmen erläutern. Nichts von dem, was auf den Bildern zu sehen ist, existiert heute noch im abgebildeten Zustand. Ja es dürfte nahezu unmöglich sein, auch nur einen einzigen der damals festge- haltenen Orte exakt zu lokalisieren. Stadtteile völlig anderer Struktur sind an die Stelle der alten Siedlungen getreten. Und auch die damals gebauten, heute schon wieder 40 Jahre alten Vorstädte werden in der Zwischenzeit mehrfach heftige Veränderungen erlebt haben. Die Erinnerung an das Leben, das die Menschen früherer Generationen an diesen Orten geführt haben, ist also restlos getilgt.

Aber auch die massiven Zerstörungen, die nötig waren, um Neues zu schaffen, sind längst aus dem Bewusstsein verschwunden. Eine Ausstellung von Fotografien, die das ästhetische Elend von damals zeigen, könnte für die heutigen Bewohner der Quartiere also interessant sein. Doch Benning ist kein Historiker, der aufklären und Tatbestände erläutern will. Es geht ihm nicht um die Häuser, die vorher dort gestanden haben, und schon gar nicht um die Stadt, die heute dort steht. Er ist ein optisch sensibler Beobachter, ein künstlerisch reagierender Denker. Er will, was er entdeckt und erspürt hat, für sich selber festhalten, aber auch einem möglichen Publikum mitteilen.

In diesem Fall war es die extreme Unwohnlichkeit, die er in den verwüs- teten Stadtquartieren verspürt hat, der desolate Zustand zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht, der ihn bewegt hat. Es waren die „Stadien des Zerfalls“, die etwas in ihm ausgelöst haben. Sie vermögen auch heute noch etwas auszulösen – nicht nur bei dem, der die Stadtlandschaften damals mit der Kamera durchstreift hat, sondern auch bei dem, der die Bilder von einst heute betrachtet.

 

siehe auch:

England 1969 – 1972