Spuren des Lebens
Gottfried Knapp, 2008
Unseren kurzgefassten Überblick über die Facetten seines Werks beginnen wir mit dem, was sich im Rückblick fast als die Ausnahme, die die Regel bestätigt, erweist: die frühen Zeichnungen, die vor allem während der Stipendienjahre in London entstanden sind. Eine dieser Zeichnungen von 1978 trägt den spielerisch-poetischen und doch programmatischen Titel »Die Erschaffung des Menschen durch sich selbst, aus dem Geist der Logik und der Sehnsucht« und zeigt vor einem angedeuteten Landschaftshorizont eine kleine menschliche Figur. Dieses streichholzartige steife Wesen zieht mit der stabartigen Verlängerung seines ausgestreckten rechten Arms am Boden einen Kreis um sich, in dem der querliegende lange Schatten des Körpers wie der rotierende Zeiger einer Uhr wirkt. Der abgebildete Mensch umzirkelt und definiert also durch seine bildnerische Tätigkeit seinen eigenen Lebensumraum und projiziert sich als Schatten selber in diesen Lebenskreis hinein.
Man kann in dieser Andeutung einer raumdefinierenden, bildnerischen Tätigkeit eine visionäre Vorform jener ganzkörperlich verwirklichten Zirkelbilder sehen, bei denen Benning in einer Art Versuchsanordnung die Reichweite der eigenen Beine oder Arme zum Maß für konzeptuell erstellte Gemälde machte. Bei einem dieser Bilder hat er mit nackten Füßen eine am Boden liegende, feucht bemalte Leinwand betreten, um in einer exakten Drehbewegung über dem Mittelpunkt mit dem ausgestreckten Fuß in der Farbspur einen beschwörenden, aber zwangsläufig nicht perfekt gerundeten Kreis um die eigene Standfläche zu ziehen. Das Ergebnis war ein verblüffend lebendiges Stück Peinture, das aber, wie auch die mit kreisendem Arm vollzogenen Ringbilder, nicht einem freien gestalterischen Malgestus seine Existenz verdankte, sondern einem gedanklich detailliert vorgedachten, dann in schöner Konzentration durchgeführten Konzept.
Kenner von Bennings vielfältigem Werk werden in der erwähnten Zeichnung eines Menschen, der einen Kreis um sich herumprojiziert, aber auch schon den projizierten Bilderring der Großinstallation »Video-Watch« vorausahnen. Die zu einem riesigen Kreis aneinandergefügten, von der Mitte aus erlebbaren 60 Fernsehbildschirme, über die 60 verschiedene Fernsehprogramme von allen Enden der Welt schrittweise im Sekundentakt im Kreis weiterwandern, führen auf eine so bildmächtige Art die weltumspannende, alle Zeitgrenzen überspringende Medienvernetzung vor, dass man nicht begreifen kann, warum dieses aufregend zeitgemäße Projekt noch immer nicht realisiert worden ist.
Der Mann auf unserer Zeichnung führt uns aber auch in die Ausdruckswelt der frühen Zeichnungen hinein. Der auffällige Schatten der gezeichneten Figur ruft die vielen gezeichneten Schatten in Erinnerung, die sich von steif dastehenden Figuren loslösen und fast körperlich vital über den Boden hermachen, ja dort eine eigene Existenz zu bekommen scheinen. Das zeichnerische Frühwerk ist voll von flach auf dem Boden liegenden Rätselwesen. Seltsam amorphe Ur-Zellgebilde schwirren über die Fläche, spitzschnablige Vogelwesen mutieren in Humanformen hinüber, menschliche Anatomien, die flach auf die Erde gebügelt zu sein scheinen, wachsen aus in hakenartige Gebilde, die mit ihren scharfen Spitzen entschieden aggressiv wirken, aber auch eindeutig phallisch enden können, ja manchmal direkt zu ejakulieren scheinen. Auf einigen Zeichnungen zerfallen die angedeuteten menschlichen Körperformen in stereotype Einzelteile, die notorisch die Form des Kreuzes artikulieren. Dort aber, wo sich die Figuren leiblich von der Erde erhoben haben, stehen sie fast immer in einem bedrohlich angespannten Verhältnis zu konkurrierenden Figuren, ja manchmal scheint es in den Auseinandersetzungen zwischen stehenden und liegenden Figuren um Leben und Tod zu gehen.
Etwas Gespenstisches, Traumhaft-Traumatisches liegt über diesen subtilen Andeutungen, die eine Art von Psycho-Archäologie betreiben, jedenfalls an keiner Stelle sich mit der Alltagsrealität einlassen. Ein in sich hineinhorchendes männliches Individuum versucht die unscharfen Bilder des Unbewussten mit dem Zeichenstift einzufangen. So kommt es zu archetypisch eigenwilligen Formulierungen, die im späteren Werk bestätigend wiederkehren können: Die mit großem handwerklichen Aufwand geschmiedeten gabel- oder hakenartigen Eisenskulpturen jedenfalls sind massive Konkretionen von Figuren, die lange zuvor dem zeichnerischen Lineament entwachsen sind.
Ende der siebziger Jahre scheint das Bedürfnis, die Schemen des eigenen Inneren zu bannen, nachzulassen. Die Serie der Zeichnungen läuft aus. Zehn Jahre später führt Benning in schöner Radikalität vor, wie er das intuitive Suchen seiner Anfänge durch das konzeptuelle Finden ersetzt hat. In den 60 »Belgrader Zeichnungen« hat er jeweils einen Vierkant-Graphitstift mit einer der Kanten auf dem Papier längsgezogen und dann in einer einzigen behutsam kreisenden Bewegung einmal so über die Zeichenfläche gedreht, dass die anfänglich messerscharfe Linie in der Kurve kontinuierlich breiter, beim Wiedereinschwenken in die Längsrichtung aber wieder schmal wurde. So entstanden graphische Wirbelfiguren, die den Tiefenraum anreißen und weichtierartige Formen evozieren – eine Variantenvielfalt, die nicht der Phantasie entspringt, sondern einer strengen Spielregel abgewonnen ist.
Die Methoden dafür mussten erst entwickelt werden. So hat Benning schon lange, bevor Fotografie und Video Leitmedien des Kunstbetriebs wurden, mit Aufnahmegeräten der unterschiedlichsten Art bildnerisch gearbeitet. Doch anders als fast alle Fotokünstler, die nach ihm zur Foto- oder Filmkamera griffen, hat er das Lichtbild nie als Medium der bildnerischen Einflussnahme, der beschönigenden Manipulation verstanden, sondern ausschließlich als Mittel, um Gesehenes photomechanisch möglichst exakt festzuschreiben. Der inszenatorische Aufwand, mit dem etwa Bernd und Hilla Becher und ihre berühmten Schüler jede einzelne Fotoarbeit vor- oder nachbereiten, verbietet sich für Benning. Er benutzt das Lichtbild als Dokumentationsmedium, als technisches Hilfsmittel, um etwas Bestehendes möglichst unverfälscht festzuhalten. Seine Fotoporträts etwa verweigern jegliche Form der überhöhenden Inszenierung, sie sind ganz dem zufällig erlebten Augenblick verpflichtet und überzeugen durch ihre dokumentarische Direktheit, ihre Wahrhaftigkeit in der Wiedergabe. Ähnlich die gemeinsam mit Hermann Kleinknecht konzipierte Serie der Video(selbst)porträts: durch den Verzicht auf alle filmischen Eingriffe, durch die Konzentration auf den Selbstakt des vor der Kamera Agierenden bekommen sie ihre manchmal fast bestürzende Gegenwärtigkeit, aber auch ihre Schlüssigkeit als – Sozialdokumente.
Bennings Fotografien und Filme sind also Aufzeichnungen von Gegebenheiten, Bildzeugnisse von vorgefundenen Situationen, erlebten Personen oder bestimmten Augenblicken. Sie gewinnen ihre Intensität durch die Unmittelbarkeit, mit der sie ihre Entdeckung vorbringen, und durch die Kraft, die das isolierte Objekt im freigestellten Bild entfaltet. Die künstlerische Arbeit besteht also im Auswählen und Festhalten dessen, was mitteilenswert sein könnte, was Geschichten zu erzählen vermag und im Betrachter Assoziationen wachruft.
Mit dem Spürsinn eines Künstlers, aber auch mit dem Ehrgeiz eines Feldforschers, eines Archäologen oder eines Archivars macht sich Benning spurensichernd über die Hinterlassenschaften der Spezies Mensch her. Ein Werk von gewaltiger humaner Vielfalt ist so zustandegekommen. Man könnte es, auf das dokumentarische Sammelgroßwerk von Walter Kempowski anspielend, als Bennings »Echolot« durch die Schichten der eigenen Umgebung bezeichnen.
Im engen Rahmen dieses Katalogs kann nur eines dieser dokumentarischen Großunternehmungen andeutend und stellvertretend gewürdigt werden. Als Benning bei der Erkundung seiner oberpfälzischen Heimat 1968 erstmals mit den Bewohnern des heruntergekommenen Gemäuers namens Burgtreswitz zusammenkam, begann ein Abenteuer der Existenzerkundung, das Stoff für einen langen Roman geboten hätte, bei Benning aber in Fotoserien über das Leben auf der Burg, in mehrere dokumentierende Filme und in genaue literarische Beschreibungen der allmählichen Veränderungen mündete. Die spurensichernde Großaktion hat also ein (Gesamt-)Kunstwerk hervorgebracht, das anhand von Bildern und Texten in bewegender Dichte von Menschen und ihren Schicksalen berichtet, also die Grenze zur Literatur bewusst überschreitet, ja auf dem unbeackerten Feld zwischen den beiden Kunstformen reiche Ernte einfährt.
In den Arbeiten der letzten Jahre ist der literarische Anteil auf Kosten der Bilder oft deutlich gewachsen, ja es sind einige Texte entstanden, die auf die Referenz mit dem Bild ganz verzichten. Blickt man also auf Bennings Anfänge zurück, kann man eine allmähliche Verlagerung der Inhalte vom Bild hinüber ins Wort feststellen. Doch so eigensinnig unangepasst und gedanklich kreativ Benning in seinen Anfängen als Fotograf und als Schöpfer von Rätselzeichnungen mit literarisch weiterführenden Titeln war, so eigenständig, so fern der marktgängigen Normen und so uneinnehmbar für den Kulturbetrieb ist er auch heute noch als Archäologe menschlicher Existenzformen, als Analytiker von symbolhaften Zeichen wie als unversöhnlich kritischer Beobachter des Konsum- und Medienalltags. Er hat nicht, wie es in den Bildkünsten üblich ist, mit den Mitteln unserer Zeit eine bildhafte Parallelwelt geschaffen, sondern als Künstler, der sich der Sprache der Bilder wie der der Worte sicher ist, den Focus auf reale, aber unbeachtete Partien unserer bestehenden Welt gerichtet, die Unerhörtes zu vermelden haben.