Vom Verfertigen der Bilder beim Gehen

Vom Verfertigen der Bilder beim Gehen

Gottfried Knapp, 2006

Eine Bilderreise im Winter. Eine Annäherung an etwas, das sich verschließt. Kahle Bäume im Vordergrund – sie stehen quer, vergittern die Sicht. Die Landstraße dahinter – sie schießt quer durchs Bild. Der Dorfweg ein Stück weiter – ein dünner Querstrich vor den drückenden Horizontalen der Häuser, die sich eigens lang zu machen scheinen unter ihren schneefleckigen Dächern, um den Einblick zu verwehren. Alles dehnt sich in die Breite, als sperre es sich gegen Eindringlinge. Kein Hinweis, wo es hineingehen könnte in das dörfliche Geschiebe oder wie der Verhau der querliegenden Schichten zu durchbrechen sei.

Nur ein Gebäude, das wie ein Bleistiftstummel über den geduckten Hausdächern emporragt, wagt sich in die Vertikale: ein wuchtiger Turm mit halbhohem Anbau. So sehen alte Wehrkirchen im Profil aus. Doch es ist nicht eine Kirche, die sich den Horizontalregeln dieser Dorfansicht widersetzt, es ist, wie wir beim Weiterblättern merken, eine architektonisch recht primitive mittelalterliche Zwingburg auf dem Hügel über dem Dorf, die alles überragt, eine rohe Steinanhäufung, aus deren paar winzigen klaffenden Fensterluken das Leben schon vor langer Zeit entwichen sein muss.
Ein ländliches Stück Deutschland wird mit fotografischen Mitteln (psycho-)analysiert. Kurt Benning, der im Zwischenbereich zwischen Wort- und Bildkunst mit präzis konzipierten bildnerischen oder verbalen Untersuchungsverfahren vorgefundene, von Menschen geschaffene Strukturen registriert und durch eine nachvollziehende Ordnung sinnlich ins Bewusstsein gehoben hat, erwandert ein Dorf in seiner oberpfälzischen Heimat. Er notiert mit der Kamera, was ihm als kennzeichnend und typisch für die Region erscheint und bringt es später in eine sprechende Ordnung, in eine erzählende Form.

Er hat für seinen Besuch einen Augenblick gewählt, in dem die gefühlte Atmosphäre über das Schwarz-Weiß-Medium fast handgreiflich wird. Der Anflug von Neuschnee hat sich nur an bestimmten Stellen halten können und sieht auch da, wo er liegengeblieben ist, höchst verderblich aus. Er reicht nicht aus, um die düster-schmutzigen Partien im Dorf ordentlich zu bedecken und aufzuhellen. Ja an manchen Stellen hat man den Eindruck, dass die Bewohner den weißen Stoff in aller Eile eigens für den eingedrungenen Fremdling hingestreut haben, dann aber in die Häuser geflüchtet sind, um von den sicheren Plätzen hinter den Vorhängen aus das eindringende Verhängnis zu beobachten. Das einzige Lebewesen, das sich vor der Kamera blicken lässt, ist eine Katze. Auch die wenigen humanen Gebrauchsgegenstände, die nicht weggesperrt sind – die paar unhandlich abgestellten Autos etwa – wirken so, als seien sie von ihren Nutzern vor langer Zeit vergessen worden.

Nichts lenkt also ab vom lautlosen, aber drastischen Mienenspiel der Häuser, die – ob ehrwürdig alt oder nur früh gealtert – ihre individuellen Bauschicksale in karikaturenhafter Überzeichnung ausstellen. Kurt Benning konzentriert sich als Beobachter ganz auf die kleinen ästhetischen Dramen, die sich auf den Fassaden und in den schiefwinkligen Zwischenräumen zwischen den sich bedrängenden Wohnhäusern, Scheunen und Schuppen abspielen. Was die Bewohner des Orts dem durchziehenden Wanderer an Emotionen vorenthalten, geben ihre Häuser im Grau des winterlichen Nebels und im matten Schein der schmelzenden Schneereste unfreiwillig deutlich preis. Schwarz und Weiß erzählen Geschichten.

 

 

Wie die Außenansichten des Dorfs verraten, steht in der Nähe der düsteren Burg auch eine Kirche. Jedenfalls überragt auf einigen Bildern ein hübscher Zwiebelturm die Häuser. Doch er wirkt mit seinen harmonischen Rundungen wie ein Fremdkörper in der kantigen, winkligen Welt und spielt darum, wie auch der fast unanständig frei in den Himmel ragende Kamin der ehemaligen Brauerei, der von einer untypischen, technisch bestimmten Arbeitswelt kündet, in der Bilderfolge nur eine beiläufige Nebenrolle. Was berichtenswert ist, findet sich zu ebener Erde, drängt sich beherrschend ins Bild: die sargschwarz verwitterten, fensterlosen Holzwände der hohen, beherrschenden Scheunen etwa, die den Wohnbauten die Aussicht nehmen; die Durchblicke zwischen den rätselhaft verwinkelt stehenden Häusern, die nur neue Hindernisse ins Bild bringen; die monströsen Holzzäune um handtuchschmale, unbenutzbare  Vorgärten, die von uralten Feindverhältnissen künden. Überhaupt Zäune: sie umschließen jeden Zipfel Land, auf dem etwas  sprießen könnte, lassen nur die engen Windungen der Sträßchen und Wege als gemeinschaftlich nutzbaren Raum übrig.

Die Wohnhäuser sehen in der Regel ärmlicher aus als die Wirtschaftsgebäude; auch fehlt ihnen offenbar die Kraft, die dazugehörenden Einzelbauten zu einem geschlossenen Hofensemble zusammenzubinden. Einige von ihnen sind schon nicht mehr bewohnt; ihre Fenster sind erblindet oder stehen offen, und doch wirken sie mit ihren fleckigen, bröckelnden Fassaden oft lebendiger als die frisch getünchten Häuser, bei denen sprossenlose Fensterscheiben schwarze Löcher in die leblos weißen Wände reißen. Da und dort schiebt sich auch mal ein Neu- oder ein Anbau mit banalen Lochmustern ins Bild, als müsse er beweisen, dass auch moderne Bautechniken in diesem Milieu nicht wirklich zu einer Alternative verhelfen.

Hebt sich der Blick aber über die Dächer hinauf in den Himmel, dann kommt unweigerlich der erhobene steinerne Zeigefinger des Burgturms ins Bild. Seine Drohgebärde ist allgegenwärtig, wirkt hinunter bis in die verstecktesten Winkel des Dorfs. Der Gegensatz von Unten und Oben, der zwischen Dorf und Burg jahrhundertelang bestimmend gewesen sein dürfte, wirkt, obwohl er seine gesellschaftliche Relevanz längst verloren hat, in den Schwarz-Weiß-Winterbildern von Benning emotional bildmächtig weiter. Die nicht sehr ausladende, extrem kompakte, schroff unzugängliche Burg wächst über den Zufälligkeiten der Dorfbebauung  zu einem Monument der Unversöhnlichkeit heran, das alle emotionalen Bewegungen in den unteren Zonen der Bilder beeinflusst.

Man muss nicht gleich Kafkas Roman »Das Schloss« zum Vergleich heranziehen, doch was Kurt Benning auf seiner Winterreise in der Oberpfalz mit der Kamera an physischen Details aufgespürt und bildnerisch herauspräpariert hat, tut auf psychischer Ebene nachhaltig Wirkung.

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